Hundert Jahre Einsamkeit
Farbe zu trinken, und es wurde Licht in seiner Erinnerung. Seine Augen wurden feucht von Tränen, bevor er sich selbst in einem widersinnigen Wohnzimmer sah, in dem die Gegenstände beschildert waren, bevor er sich über die an die Wände gepinselten feierlichen Torheiten schämen konnte, und sogar noch, bevor er den Neuankömmling im betörenden Widerschein der Freude erkennen konnte. Es war Melchíades.
Während Macondo die Wiedergewinnung der Erinnerungen feierte, schüttelten José Arcadio Buendía und Melchíades den Staub von ihrer alten Freundschaft. Der Zigeuner war bereit, im Dorf zu bleiben. Er war in der Tat im Tod gewesen, war jedoch zurückgekehrt, weil er die Einsamkeit nicht ertragen konnte. Von seiner Sippe verbannt, als Strafe für seine Treue zum Leben jeder übernatürlichen Fähigkeiten beraubt, beschloß er in den vom Tod noch unentdeckten Winkel der Welt zu flüchten und dort ein Laboratorium der Daguerreotypie zu eröffnen. José Arcadio Buendía hatte nie von dieser Erfindung gehört, doch als er sich selbst und seine ganze Familie in einem ewigen Alter auf eine schillernde Metallplatte gebannt sah, war er stumm vor Staunen. Aus dieser Zeit stammte der oxydierte Daguerreotyp, auf dem José Arcadio Buendía zu sehen war mit gesträubtem, aschgrauem Haar, mit gestärktem, von einem Kupferknopf verschlossenen Hemdkragen und einem Gesichtsausdruck von verdutzter Feierlichkeit, und den Ursula, halbtot vor Lachen, als »erschrockenen General« beschrieb. In Wirklichkeit war José Arcadio Buendía an jenem durchsichtigen Dezembermorgen, an dem der Daguerreotyp gemacht wurde, nur so verschreckt, weil er dachte, man verbrauche sich nach und nach, sobald man sein Abbild auf Metallplatten übertragen habe. Durch eine merkwürdige Umkehrung der Gewohnheit schlug Ursula ihm diese Idee aus dem Kopf, wie auch sie es war, die ihren alten Groll vergaß und beschloß, Melchíades solle fortan bei ihnen wohnen, wenngleich sie nie erlaubte, daß ein Daguerreotyp von ihr gemacht wurde, weil sie (ihren eigenen Worten gemäß) nicht wünschte, zum Gespött ihrer Enkelkinder zu werden. An jenem Morgen zog sie ihren Kindern den Sonntagsstaat an, puderte ihnen das Gesicht und flößte einem jeden von ihnen einen Löffel Marksaft ein, damit sie sich vor Melchíades' eindrucksvoller Kamera zwei Minuten lang vollkommen unbeweglich verhalten konnten. Auf dem Familiendaguerreotyp, dem einzigen, das je gemacht wurde, erschien Aureliano ganz in schwarzem Samt zwischen Amaranta und Rebeca. Er trug die gleiche Mattigkeit und den gleichen hellsichtigen Blick zur Schau, den er Jahre später vor dem Erschießungskommando zur Schau tragen sollte. Doch noch hatte er keine Vorahnung seines Schicksals. Er war ein erfahrener, im ganzen Moorgebiet wegen seiner kostbaren Arbeiten geschätzter Goldschmied. In der Werkstatt, die er mit Melchíades teilte, hörte man ihn kaum atmen. Er schien in eine andere Zeit geflüchtet, während sein Vater und der Zigeuner schreiend die Voraussagen des Nostradamus deuteten, mit Gläsern klapperten, Säuren verschütteten und durch das gegenseitige Gepuffe mit Ellbogen und Füßen Silberbromid vergeudeten. Der Arbeitseifer und der hohe Verstand, mit denen er seinen Interessen nachging, hatten es Aureliano ermöglicht, in kurzer Zeit mehr Geld zu verdienen als Ursula mit ihrer köstlichen Karameltierwelt, und doch wunderte sich jedermann, daß er bereits ein fix und fertiger Mann war, ohne — so schien es — je Frauen gekannt zu haben. In der Tat hatte er bislang keine derartige Bekanntschaft gemacht.
Monate später kehrte Francisco-der-Mann wieder, ein uralter Landstreicher von nahezu zweihundert Jahren, der häufig durch Macondo kam und dabei seine selbstkomponierten Lieder zum besten gab. In ihnen erzählte Francisco-der-Mann eingehend von den in den Dörfern seines Wanderwegs geschehenen Neuigkeiten, von Manaure bis zu den Rändern des Moors, so daß der, welcher eine Botschaft zu übermitteln oder eine Begebenheit bekanntzumachen hatte, ihm zwei Centavos zahlte, damit er sie in sein Vortragsprogramm aufnahm. So kam es, daß Ursula eines Abends, als sie in der Hoffnung, etwas über ihren Sohn José Arcadio zu hören, den Liedern lauschte, durch reinen Zufall vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Francisco-der-Mann, so genannt, weil er den Teufel in einem Wettstreit des Stegreifgesangs geschlagen hatte, und dessen wirklichen Namen niemand kannte, verschwand aus Macondo während der Schlaflosigkeitspest und
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