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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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gewagt, ihn in ihre Pläne einzuschließen, nicht nur wegen seiner Verbindung mit dem Landrichter, sondern auch wegen seines einsiedlerischen, menschenscheuen Wesens. Überdies wußte man, daß er auf Anweisung seines Schwiegervaters blau gewählt hatte. So hatte er rein zufällig seine politischen Gefühle geäußert, und reine Neugierde hatte ihn auf den verrückten Einfall gebracht, den Arzt aufzusuchen, um sich von einer Beschwerde heilen zu lassen, an der er nicht litt. In dem nach Kampfer riechenden Spinnwebenloch traf er eine Art von staubbedecktem Leguan, dessen Lungen beim Sprechen zischten. Bevor er eine Frage stellte, zog der Arzt ihn zum Fenster und klappte sein unteres Augenlid um. »Da ist nichts«, sagte Aureliano weisungsgemäß. Dann stieß er sich mit den Fingerspitzen in die Leber und fügte hinzu: »Hier habe ich Schmerzen, die mich nicht schlafen lassen.« Worauf der Doktor Noguera unter dem Vorwand des starken Sonnenlichts das Fenster schloß und ihm in schlichten Worten erklärte, daß es eine patriotische Pflicht sei, die Konservativen zu ermorden. Mehrere Tage hindurch trug Aureliano ein Fläschchen in der Hemdtasche. Alle zwei Stunden zog er es hervor, tat drei Kügelchen auf die Handfläche und kippte sie ruckartig auf die Zunge, wo er sie langsam zergehen ließ. Don Apolinar Moscote spottete über seinen Glauben an die Homöopathie, die Mitglieder des Komplotts hingegen erkannten daran einen der ihren. Fast alle Söhne der Gründer waren verwickelt, wenn auch niemand genau wußte, worin die Verschwörung bestand, die sie im Schilde führten. Im übrigen zog sich Aureliano an dem Tag, als der Arzt ihm das Geheimnis anvertraute, aus der Verschwörung zurück. Wenn er auch von der Dringlichkeit, das konservative Regime zu stürzen, überzeugt war, so löste der Plan in ihm dennoch Abscheu aus. Doktor Noguera war ein Mystiker des persönlichen Attentats. Sein System beschränkte sich auf die Verbindung einer Reihe von Einzelaktionen, die mit einem meisterlichen Schlag von nationaler Tragweite die Beamten des Regimes mit ihren Familien, insbesondere mit ihren Kindern beseitigen sollte, um damit den Konservativismus mit der Wurzel auszurotten. Natürlich standen Don Apolinar Moscote, seine Frau und seine sechs Töchter auf der Liste.
    »Sie sind weder ein Liberaler noch sonst etwas«, sagte Aureliano, ohne sich zu erregen. »Sie sind nichts als ein Schlachter.«
    »In diesem Fall«, antwortete der Arzt ebenso ruhig, »kannst du mir das Fläschchen zurückgeben. Dann brauchst du es nicht mehr.«
    Erst sechs Monate später erfuhr Aureliano, daß der Arzt ihn als Mann der Aktion aufgegeben hatte, weil er ihn für einen zukunftslosen Schwärmer von schwachem Charakter und ausgesprochener Neigung zur Einsamkeit hielt. Man versuchte ihn zu beschatten, aus Furcht, er könne die Verschwörung verraten. Doch Aureliano beruhigte sie: er würde kein Wort sagen, aber in der Nacht, in der es ihnen einfallen sollte, einen Mordanschlag auf die Familie Moscote zu verüben, würde er als Verteidiger auf der Schwelle ihres Hauses stehen. Dabei legte er eine so überzeugende Entschlußkraft an den Tag, daß der Plan auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. In jenen Tagen bat Ursula ihn um seine Meinung über Pietro Crespis und Amarantas Hochzeit, und er erwiderte, die Zeiten seien nicht danach, um an dergleichen zu denken. Seit einer Woche trug er eine altertümliche Pistole unter dem Hemd. Er überwachte seine Freunde. Besuchte nachmittags José Arcadio und Rebeca, die ihr Haus einzurichten begannen, zur Kaffeestunde und spielte von sieben Uhr abends ab mit seinem Schwiegervater Domino. Beim Mittagessen plauderte er mit Arcadio, der bereits ein hochgeschossener Junge war, und fand ihn von Mal zu Mal erregter wegen der drohenden Kriegsgefahr. In der Schule, wo Arcadio Schüler, die älter waren als er, zusammen mit Buben unterrichtete, die gerade sprechen lernten, war das liberale Fieber erwacht. Man sprach davon, Pater Nicanor zu erschießen, die Kirche in eine Schule umzuwandeln, die freie Liebe einzuführen. Aureliano suchte sein Ungestüm zu dämpfen, empfahl ihm Zurückhaltung und Vorsicht. Taub für seine besonnenen Vernunftgründe, für seinen Wirklichkeitssinn, warf Arcadio ihm in aller Öffentlichkeit Charakterschwäche vor. Aureliano wartete. Endlich, Anfang Dezember, kam Ursula ganz verstört in die Werkstatt gestürzt.
    »Der Krieg ist ausgebrochen!«
    Tatsächlich war er vor drei Monaten ausgebrochen.

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