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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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befahl er dem Sergeanten, das Etikett aufzubrechen und die Stimmen zu zählen. Es waren fast ebenso viele rote wie blaue Zettel vorhanden, doch der Sergeant zählte nur zehn rote und ergänzte die Differenz mit blauen. Dann versiegelten sie die Urne mit einem neuen Etikett, und am nächsten Tag nahmen die Soldaten sie in aller Herrgottsfrühe in die Provinzhauptstadt mit. »Die Liberalen werden in den Krieg gehen«, sagte Aureliano. Don Apolinar wandte seine Aufmerksamkeit nicht von den Dominosteinen. »Wenn du das wegen der Vertauschung der Zettel sagst, so sage ich dir: Sie werden nicht gehen«, sagte er. »Man läßt ein paar rote Zettel, damit es keine Anstände gibt.« Aureliano begriff die Nachteile der Opposition. »Wäre ich liberal«, sagte er, »ich ginge wegen dieser Zettel in den Krieg.« Sein Schwiegervater blickte ihn über den Brillenrand an.
    »Ach, Aureliano«, sagte er. »Wenn du liberal wärst, hättest du die Vertauschung der Zettel nicht gesehen, selbst wenn du mein Schwiegersohn bist.«
    Was wirklich im Dorf Empörung hervorrief, war nicht das Wahlergebnis, sondern die Tatsache, daß die Soldaten die Waffen nicht zurückgaben. Eine Gruppe Frauen sprach mit Aureliano, damit er bei seinem Schwiegervater die Rückerstattung der Küchenmesser erwirke. Don Apolinar Moscote erklärte ihm streng vertraulich, die Soldaten hätten die beschlagnahmten Waffen als Beweis dafür mitgenommen, daß die Liberalen sich für den Krieg rüsteten. Der Zynismus dieser Erklärung bestürzte ihn. Zwar äußerte er sich nicht dazu, doch eines Nachts, als Gerineldo Márquez und Magnifico Visbai mit anderen Freunden über den Vorfall mit den Messern sprachen, fragten sie ihn, ob er liberal oder konservativ sei. Aureliano zauderte nicht: »Wenn es etwas sein muß, dann liberal«, sagte er, »weil die Konservativen Schwindler sind.«
    Am nächsten Tag besuchte er auf Betreiben seiner Freunde Dr. Alirio Noguera, damit dieser seine angeblichen Leberbeschwerden behandle. Er hatte keine Ahnung, was diese Lüge zu bedeuten hatte. Dr. Alirio Noguera war vor wenigen Jahren nach Macondo gekommen, ausgerüstet mit einer von geschmacklosen Arzneikügelchen angefüllten Hausapotheke und einem ärztlichen Wahlspruch, der niemanden überzeugte: »Ein Nagel zieht einen zweiten aus.«
    In Wirklichkeit war er ein Scharlatan. Hinter der harmlosen Fassade eines ruhmlosen Arztes verbarg sich ein Terrorist, der mit halbhohen Stiefeln die Narben an seinen Fesseln verbarg, die fünf Jahre Block hinterlassen hatten. Beim ersten föderalistischen Abenteuer gefangengenommen, entkam er nach Curaçao, verkleidet mit dem Gewand, das er am meisten auf der Welt verabscheute: eine Soutane. Nach langer Verbannung, aufgestachelt von den übertriebenen Nachrichten, welche die Verbannten des gesamten Karibischen Meers mitbrachten, schiffte er sich in einem Schmuggelschoner ein und tauchte mit den Pillenfläschchen, die nichts enthielten als Zuckerraffinade, und einem eigenhändig gefälschten Diplom der Universität Leipzig in Riohacha auf. Dort weinte er vor Enttäuschung. Der föderalistische Eifer, den die Exilierten als jeden Augenblick platzbereites Pulverfaß beschrieben, hatte sich in eine vage Wählerillusion aufgelöst. Über den Fehlschlag verbittert und begierig auf ein Plätzchen, an dem er beruhigt dem Alter entgegensehen konnte, flüchtete der falsche Homöopath nach Macondo. In dem mit leeren Flakons vollgestopften engen Zimmerchen, das er neben dem Dorfplatz gemietet hatte, lebte er mehrere Jahre von den hoffnungslosen Kranken, die, nachdem sie alles versucht hatten, sich mit Zuckerkügelchen trösteten. Sein Agitationstrieb ruhte, solange Don Apolinar Moscote eine dekorative Autorität war. Die Zeit verging ihm mit Erinnerungen und beim Bekämpfen seines Asthmas. Die bevorstehenden Wahlen waren der Faden, der ihn von neuem zum Knäuel der Auflehnung führte. So näherte er sich den jungen Leuten des Dorfes, die jeder politischen Bildung entbehrten, und begann eine stillschweigende Aufhetzungskampagne. Die zahlreichen roten Zettel, die in der Urne lagen und die Don Apolinar Moscote der den Jugendlichen eigenen Neuerungssucht zuschrieb, gehörten zu seinem Plan: er zwang seine Schüler zu wählen, um sie zu überzeugen, daß die Wahl eine Posse war. »Das einzig Wirksame«, sagte er, »ist die Gewalt.« Die Mehrheit von Aurelianos Freunden war von dem Gedanken, die konservative Ordnung zu beseitigen, begeistert, doch keiner von ihnen hatte

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