Hundert Namen: Roman (German Edition)
wartete auf den Tag, an dem ihm klarwurde, was wirklich geschehen war, sie wartete darauf, dass er explodierte. Zwar wollte sie das nur ungern miterleben, aber sie wusste, dass es sein musste, wohl oder übel. Er hatte ja sonst niemanden mehr. Sicher, er wurde von einer Menge Leute unterstützt, die triumphierend den Daumen in die Höhe reckten, wenn sie ihm auf der Straße begegneten, und ihm im Pub auf die Schulter klopften, aber sie waren nicht für ihn da, nicht wirklich.
»Danke, Dee«, sagte er leise, ohne die Augen vom Fernseher zu nehmen.
»Kein Problem. Bist du ganz sicher, dass du nicht mit uns zum Lunch kommen magst? Wir haben eine nette Carvery mit großem Fleischbüffet entdeckt. Neil sagt, sie zeigen Fußball auf der Großbildleinwand, die Kids kommen auch mit und würden sich bestimmt freuen, dich zu sehen.«
»Ach nein. Aber danke«, antwortete er mit einem müden Lächeln. »Ich schau mir das Spiel lieber hier an.«
Deirdre stand auf, streckte sich und schaute aus dem Fenster. »Da ist sie wieder.«
Colin brauchte nicht zu fragen, wen sie meinte. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster auf die Grünfläche gegenüber.
»Wusstest du es schon?«
»Ja.«
»Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Weil ich nicht in der Stimmung bin, dir nachzurennen, wenn du mit einer Bratpfanne in der Hand über den Rasen läufst.«
»Bratpfanne? Ich würde mir noch was viel Besseres einfallen lassen, glaub mir«, grummelte sie und starrte, die Hände in die Hüften gestemmt, zum Fenster hinaus. »Das wievielte Mal ist es inzwischen? Das zweite? Oder das dritte?«
»Das vierte, glaube ich.«
»Was zur Hölle macht sie da bloß?« Dee ging näher ans Fenster, um besser hinaussehen zu können.
»Komm zurück, Dee, sonst sieht sie dich noch.«
»Genau das will ich ja, verdammt. Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber ich schwöre bei Gott, dass ich am liebsten rausgehen und sie zusammenschlagen würde.«
»Hör auf damit, Dee«, sagte er so leise, dass sie sofort gehorchte. Colin war wie ihr Vater, nichts schien ihn wütend zu machen. Er war zu weich, zu sanft, zu schnell bereit, sich in die Probleme anderer Menschen hineinzuversetzen. Das hatte ihn ja überhaupt in den ganzen Schlamassel gebracht. Er hätte das dumme Schulmädchen an dem Tag einfach heimgehen lassen sollen, egal, was für ein Problem sie hatte, und nicht versuchen, sie zu trösten. Sie hatte seine Nettigkeit vollkommen falsch interpretiert, hatte zu viel hineingelesen, und er hatte dafür bezahlen müssen, dass sie sich beschämt und zurückgewiesen fühlte.
Dee seufzte. »Ich weiß nicht, wie du das machst, Colin. Ich an deiner Stelle würde ihr Gott weiß was an den Hals wünschen. Okay, ich komme zu spät, wenn ich mich jetzt nicht schleunigst auf den Weg mache. Wenn du es dir doch noch anders überlegst mit dem Lunch, lass es mich wissen, wir sind ab zwei Uhr dort, okay?« Sie küsste ihren Bruder auf den Kopf und verließ das Haus.
Colin vergewisserte sich, dass seine Schwester wirklich wegfuhr, denn er traute ihr nicht – womöglich würde sie doch auf die Reporterin losgehen. Als im Haus wieder die Stille eingekehrt war, an die er sich immer noch nicht gewöhnt hatte, seit Simone gegangen war, weil sie Zeit für sich brauchte, um über ihre Zukunft nachzudenken, zog er die Zeitung unter dem Sofapolster hervor und breitete sie vor sich auf dem Couchtisch aus. Er blickte auf das Foto von Katherine Logan auf der Titelseite, das fröhlich lächelnde Gesicht, und dann auf das Bild im Innern, die Frau, die das Gerichtsgebäude verließ, und las den Artikel noch einmal.
Als er wieder aus dem Fenster schaute, war sie weg.
Kapitel 16
Die Tür zu den Redaktionsbüros von Etcetera stand offen, als Kitty ankam, was ihre Nervosität und ihre unguten Vorahnungen nur noch steigerte. Komm rein, sagte die Tür zu ihr, komm rein, wenn du dich traust, ich stehe offen, du hast gar keine andere Wahl. Jetzt, am Sonntagmorgen, war die Redaktion verwaist, Pete konnte mit ihr machen, was er wollte, keiner würde ihre Hilfeschreie hören. Ihre einzige Hoffnung war, dass Bob sie retten würde, aber der Artikel in der Sonntagszeitung würde wahrscheinlich sogar ihn auf die Palme bringen, denn er implizierte, dass Etcetera Anzeigenkunden verlor und in finanziellen Schwierigkeiten steckte. Keine gute Presse.
Als sie Constances Büro betrat, stand Pete wie üblich am Schreibtisch, das Telefon am Ohr. Er trug legere Wochenendkleidung, für Kitty ein
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