Hundert Namen: Roman (German Edition)
paarmal begegnet, und er hat mich angeschaut, mit einem Blick, der mir sagen sollte, wie lustig er es fand, dass er ungestraft davongekommen war.«
Kitty schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen keinen Vorwurf daraus machen, dass Sie ihn verprügelt haben.«
»Ich würde es noch mal tun, wenn ich könnte«, bestätigte er. »Zum Glück hab ich ihn nicht umgebracht, denn das heißt, ich könnte ihn mir tatsächlich ein zweites Mal vornehmen, wenn ich wollte.«
»Aber das würden Sie nie tun.«
Er ließ die Angeberei sein. »Ich hab die Angst in seinen Augen gesehen, das hat mir gereicht. Und ich werde mich für immer daran erinnern. Ich hab’s hier drin.« Er tippte sich an die Schläfe. »Das hab ich für Rebecca getan.«
Wie war sein Leben wohl seither verlaufen?, überlegte Kitty. Ein Familienvater, der von einer Tragödie heimgesucht worden war, durch die er doppelt hatte leiden müssen.
»Sie leben also nicht mehr mit Ihrer Frau zusammen?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie ist nach Manchester gezogen, da lebt sie jetzt mit einem guten Mann. Sie hat ins Leben zurückgefunden. Hat sie auch verdient. Es ist nicht richtig, mit so viel Wut zu leben. Es ist ungesund, es zerstört so vieles. Es hat unsere Ehe kaputtgemacht, meine Freundschaften. Ich brauche wahrscheinlich nicht zu erwähnen, dass man mich in meinem Job auch nicht mehr haben wollte. Mit einer Vorstrafe ist man auf dem Arbeitsmarkt nicht leicht zu vermitteln.«
Wem sagst du das, dachte Kitty. »Deshalb arbeiten Sie jetzt im Fish-and-Chips-Laden.«
»Außerdem bin ich noch Türsteher bei einem Club um die Ecke. Deshalb komme ich morgens zum Frühstück meistens hierher.« Wieder schaute er zu der Frau hinüber. »Ich muss ja irgendwie über die Runden kommen, deshalb mache ich möglichst viele Jobs. Und baue mein Leben wieder auf, so gut es eben geht.«
»Sonst noch irgendwelche Jobs?«, fragte Kitty.
Er sah sie amüsiert an. »Nee, Sie suchen keinen Job. Sie haben doch einen.«
»Da bin ich gar nicht so sicher.« Sie dachte an Pete und was das vermeintliche Exklusivinterview alles auslösen würde.
»Na, dann sorgen Sie mal dafür«, sagte Archie und stand auf. »Denn Sie haben eine Geschichte zu erzählen. Meine nämlich.« Dann verschwand er mit seiner zusammengerollten Zeitung, und Kitty blieb sehr nachdenklich mit der Rechnung zurück.
Nachdem Archie Kitty Logan im Brick Alley Café hatte sitzen lassen, folgte er der Frau, die er die ganze Zeit beobachtet hatte. Wie immer hatte sie eine Kanne Tee und ein Frucht-Scone mit Butter und Marmelade bestellt, war zwanzig Minuten geblieben und dann wieder aufgebrochen. Sie war wie ein Uhrwerk, und in den letzten neun Monaten war sie jeden Morgen da gewesen, wenn Archie hier frühstückte. Obwohl sie immer die ersten beiden Gäste waren, nahm sie nie Notiz von ihm. Wenn sie hereinkam, hielt sie Ausschau nach jemandem. Die Menschen, die sonst da waren, sah sie gar nicht wirklich. Sie setzte sich hin und wartete auf den Geist eines anderen, dann verschwand sie wieder. Obwohl Archie ursprünglich nur an den Wochenenden nach der Arbeit im Club hier aß, hatte er angefangen, auch unter der Woche öfter hierherzukommen, um herauszufinden, ob sie auch da sein würde – und siehe da, so war es. Punkt acht Uhr betrat sie das Café, jedes Mal, und immer mit demselben Gesichtsausdruck.
Er folgte ihr den Wellington Quay hinunter, über die Halfpenny Bridge auf den Bachelors Walk und sah, wie sie in der Blessed Sacrament Church verschwand. Kurz überlegte er, ob er ihr folgen sollte, entschied sich aber dagegen, nicht weil es unpassend gewesen wäre, sondern weil er sich nicht dazu überwinden konnte. Er wollte nicht in diese Kirche. Nicht mit all dem, was in ihm vorging.
Nach kurzem Zögern machte er kehrt und ging zurück in seine Wohnung.
Kapitel 15
Colin Murphys Schwester Deirdre stellte eine Kanne Tee vor ihn auf den Tisch, dazu einen Blaubeer-Muffin, sein Lieblingsgebäck. Sie tat alles, um ihn aufzuheitern, und es war ihr egal, dass er anfing zuzunehmen. Sie wollte ihn einfach glücklich machen, ihr armer kleiner Bruder hatte genug durchgemacht, und jetzt, wo seine Frau Simone und die Kinder ausgezogen waren – »um ein bisschen Abstand zu gewinnen« –, brauchte er sie mehr denn je. Obwohl er es nie zugegeben hätte und es auch nie thematisierte, hatte er sich seit dem Tag, als es passiert war, nie eine Spur von Wut anmerken lassen. Sie wartete darauf, dass es irgendwann kommen würde, sie
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