Hundert Namen: Roman (German Edition)
sonderbaren Frau wartete, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und lächelte.
»Ich hab das Museum zusammen mit meinem Daddy geführt«, erklärte Ambrose, nachdem Kitty ihr etwas ausführlicher erläutert hatte, warum sie wirklich hier war. Wie die meisten Menschen hatte Ambrose anfangs nur sehr zögernd mit ihr geredet, aber als Kitty ihr ehrlich überzeugt klargemacht hatte, dass es nicht nur ein persönliches Abenteuer, sondern auch gut für das Museum sein könnte, und ihr außerdem versicherte, dass sie keine Fotos veröffentlichen würde, war sie schließlich bereit gewesen, etwas mehr in die Details zu gehen. Kitty schrieb mit, und ihre Gedanken rasten, während sie versuchte, die Puzzleteile zusammenzusetzen.
Idee für die Geschichte: Fast niemand hält sich für interessant.
Oder:
Menschen, die sich selbst nicht für interessant halten, sind gewöhnlich die interessantesten.
Zwar bekam Kitty durchaus mit, dass Sally, die immer noch Eugenes Vorträgen sowie einer Gruppe von zu wissbegierigen Touristen ausgeliefert war, ihr eine drohende SMS nach der anderen schickte, aber sie konnte sich diese einmalige Chance eines Gesprächs mit Ambrose nicht entgehen lassen. Zwar hatte sie noch immer keine Ahnung, warum Constances Wahl ausgerechnet auf die Frau mit den wilden roten Haaren gefallen war, aber sie wusste, dass es nicht wegen des Schmetterlingsmuseums war, und sie wollte unbedingt herausfinden, was Constance bereits entdeckt hatte. Außerdem war Kitty nicht nur beruflich an der Lebensgeschichte dieser faszinierenden Frau interessiert.
»Mummy und Daddy haben das Museum gemeinsam eröffnet, aber dann ist Mummy gestorben, und Daddy musste das Museum alleine führen.«
Kitty schätzte Ambrose auf um die vierzig, aber es war schwer zu sagen, denn oft klang sie zwar fast kindlich und hatte sich auch eine kindliche Schüchternheit bewahrt, aber andererseits wirkte sie durch ihre geduckte Körperhaltung wie eine alte Frau.
»Wie ist Ihre Mutter gestorben?«, fragte Kitty behutsam, in der Erwartung, dass sie hier vielleicht auf eine Erklärung für Ambroses Aussehen stoßen würde – einen Unfall oder Ähnliches. Sie wusste nicht, wie sie das Thema ansprechen sollte – es faszinierte sie, aber es war so heikel, dass sie es wahrscheinlich nicht anschneiden konnte und es daher ausgeklammert bliebe.
»Geburt. Komplikationen. Sie hat mich hier bekommen. Im Haus. Wahrscheinlich hätte man sie im Krankenhaus retten können, aber da wollte sie nicht hin. Also. Hat es wohl so sein sollen.«
»Das tut mir sehr leid.«
Kitty trank einen Schluck Tee und wechselte das Thema. »Eugene scheint ja mit seinem Sachverstand wirklich eine große Hilfe für Sie zu sein.«
Ambrose blickte auf und lächelte. Aber sie sah nicht Kitty an, sondern blickte zur offenen Tür hinaus in den Garten, zu den Schmetterlingen, in die Natur. Einen Moment schien sie zu strahlen. Doch dann verblasste das Strahlen wieder. »Eugene liebt Schmetterlinge. Ich habe nicht gedacht, dass es möglich wäre, jemanden zu finden, der sie so sehr liebt, wie Daddy es getan hat. Ich würde es hier nicht schaffen. Nicht ohne Eugene.«
»Er sagt genau das Gleiche von Ihnen. Ohne Sie würde es diese wundervolle Einrichtung nicht geben.« Kitty lächelte, und Ambrose erwiderte das Lächeln sehr vorsichtig. »Wie haben Sie Eugene eigentlich gefunden?«
»Seine Mummy war meine Hauslehrerin, und er hat sie oft zum Unterricht begleitet – und sich immer furchtbar gelangweilt. Manchmal hat er trotzdem brav zugehört, aber meistens ist er im Museum herumgewandert. Seit über dreißig Jahren schaut er sich jetzt schon diese gerahmten Schmetterlinge an.«
»Sie sind also zu Hause unterrichtet worden?«, hakte Kitty nach.
»Ja.« Ambrose schwieg, aber Kitty wartete auf mehr, ahnte, dass noch etwas kommen würde, denn allmählich begann sie das Muster ihrer Start-Stopp-Konversation zu verstehen. »Kinder können grausam sein. Sagt man das nicht immer? Ich war, na ja, ich war ein bisschen unkonventionell.«
Das war eine gewaltige Untertreibung.
»Daddy fand, es wäre am besten, wenn ich zu Hause bleibe.«
»Waren Sie froh darüber?«
»O ja«, antwortete sie mit Nachdruck. »Ich kannte ja nichts anderes.«
»Darf ich Sie fragen, wie alt Sie sind?«
Sie reagierte, als wäre Kitty ins Fettnäpfchen getreten. Die Schultern hochgezogen, das Gesicht fast ganz hinter den Haaren verschwunden, debattierte sie die Frage offensichtlich erst einmal mit sich
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