Hundert Namen: Roman (German Edition)
selbst. »Ist das wichtig?«
Kitty dachte nach. In vielen Fällen war so etwas nicht wichtig, aber in diesem schon. »Ja, wenn es für Sie okay ist.«
»Vierundvierzig.«
Inzwischen vibrierte Kittys Handy fast ununterbrochen, vier, fünf, sechs entgangene Anrufe nacheinander, kaum hatte es aufgehört, fing es schon wieder an. Sally war sauer, und Kitty wollte ihre Mitfahrgelegenheit nicht verpassen. Aber eines hatte sie noch zu erledigen.
»Entschuldigung, aber dürfte ich wohl kurz Ihre Toilette benutzen?«, fragte sie.
Kitty erwartete eigentlich, dass es Ambrose genau wie die Frage nach dem Alter tatsächlich stören würde, aber das Gegenteil war der Fall – sie machte einen fast erleichterten Eindruck, als wäre sie froh, endlich einmal eine Ruhepause von der Fragerei zu haben.
Schnüffeln gehörte zu Kittys Lieblingsbeschäftigungen, und so spähte sie auf dem Weg zur Toilette in jedes Zimmer, an dem sie vorbeikam, und statt am Ende wie angewiesen nach rechts zu gehen, wandte sie sich nach links. Das Zimmer, in das sie nun gelangte, musste wohl Ambroses Schlafzimmer sein, und es raubte ihr den Atem. Die dem Bett gegenüberliegende Wand war von oben bis unten mit Zeitschriftenausschnitten gepflastert – Models, Schauspielerinnen, Sängerinnen. Auf einigen waren nur Haare, Augen, eine Nase oder ein Mund zu sehen, auf anderen ein ganzes Gesicht, ein paar waren Collagen aus verschiedenen Gesichtern. Genau wie die Galerie gerahmter Schmetterlinge war auch dieses Schlafzimmer ein Museum, eine Feier der Schönheit. Doch diese Ausstellung fühlte sich nicht wirklich festlich an, sondern verursachte Kitty eine dicke Gänsehaut. Hastig zog sie sich zurück.
Als Kitty Logan endlich wieder ging, war Ambrose erschöpft. So viel menschlichen Kontakt hatte sie schon lange nicht mehr gehabt – außer mit Eugene natürlich –, und sie fühlte sich ausgelaugt und müde von der Anstrengung, dauernd ihr Gesicht verstecken, ihre Gefühle verbergen, normal erscheinen und vernünftig klingen zu müssen. Solange sie allein und im Schutz ihres Häuschens war, kümmerte sie das alles nicht, aber wenn sie mit Menschen in Kontakt kam, die nicht zu ihrem vertrauten Kreis gehörten, wurde es schwierig. Dieser Kreis beinhaltete außer Eugene eigentlich nur noch Harriet, die Putzfrau, und Sara, die im Museums-Shop und -Café arbeitete, und mit den beiden Frauen sprach Ambrose auch nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Eigentlich konnte sie nur bei Eugene ganz sie selbst sein, denn er war eben Eugene. Er kannte sie schon ihr ganzes Leben lang, er war an sie gewöhnt. Bei allen anderen versteckte sie ihr Gesicht, aber bei Eugene konnte sie die Haare zurückbinden und ihm direkt in die Augen schauen.
Langsam ging sie in ihr Schlafzimmer und holte die Zeitschrift, die sie heute Morgen gelesen hatte. Der Sommer war nicht ihre Lieblingsjahreszeit, auch wenn es den Schmetterlingen und dem Geschäft dann am besten ging. Im Sommer fielen die Hüllen, und nicht nur in den Zeitschriften wimmelte es von spärlich bekleideten hübschen Frauen, auch im Museum wimmelte es von ihnen – Frauen, die sich völlig unbefangen die Haare zusammenbinden und durch Räume und Straßen flanieren konnten. Ambrose mochte den Winter viel lieber, denn dann konnte sie sich unter warmen Kleidungsschichten verstecken. Sie war in ihrem Leben nicht viel gereist, aber wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie Urlaub in einer Gegend gebucht, wo es kalt war – aber sie konnte das Museum und die Schmetterlinge im Sommer ja nicht alleinlassen.
Sorgfältig schnitt sie ein Foto aus, das eine junge Fernsehschauspielerin in einem winzigen Bikini am Strand zeigte, rank und schlank und ohne ein überflüssiges Gramm Fett, obwohl sie vor sechs Wochen ein Baby bekommen hatte. Ambrose pinnte das Foto an die Wand, wobei sie gewissenhaft darauf achtete, dass es keines der anderen verdeckte, setzte sich aufs Fußende des Betts und betrachtete es volle fünfzehn Minuten lang. Sie studierte die Augen der Frau, ihre Nase, ihren Mund, den langen Hals, die Wölbung ihres Rückens, das freche Hinterteil, die festen, sonnengebräunten Oberschenkel, die perfekt lackierten, teilweise von Sand bedeckten Zehennägel. Ambrose verlor sich in dem Bild, wurde selbst diese junge Frau, schlenderte, gerade dem Wasser entstiegen, am Strand entlang, spürte die Blicke auf sich ruhen, fühlte die Hitze auf der Haut, das Meerwasser, das an ihr herabrieselte, wusste, dass
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