Hundert Namen: Roman (German Edition)
Hocker wie tags zuvor, etwas zur Seite gedreht, um den Raum beobachten und gleichzeitig essen zu können.
»Ich nehme an, Sie erwarten, dass ich heute wieder bezahle?«, sagte sie und setzte sich neben ihn.
Er grinste nur.
»Obst und Wasser?« Auch die Kellnerin war die gleiche wie gestern Morgen.
»Ja bitte«, antwortete Kitty, überrascht, dass die Frau sich noch an ihre Bestellung erinnerte.
»Diese Art von Bedienung ist vom Aussterben bedroht«, sagte Archie und kaute ausgiebig auf der Speckschwarte. »Es gibt einfach nicht genug solche Cafés. Die wissen hier, was man will, und ansonsten lassen sie einen in Ruhe. Eine perfekte Kombination.«
In diesem Moment ging die Tür auf, und die verhuschte Frau kam herein.
»Und täglich grüßt das Murmeltier«, kommentierte Kitty.
Die Frau sah sich hoffnungsvoll um und nahm dann enttäuscht Platz.
»Das Übliche?«, fragte die Kellnerin sie, und die Frau nickte stumm.
»Warum sprechen Sie sie nicht einfach mal an?«, erkundigte sich Kitty.
»Was?« Archie schrak aus seiner Trance auf und schob seinen Teller weg, verlegen, dass er ertappt worden war.
»Die Frau«, lächelte Kitty. »Sie schauen doch dauernd zu ihr rüber.«
»Wovon reden Sie denn?« Seine Wangen röteten sich. »Was heißt denn da dauernd? Sie sind doch erst zum zweiten Mal hier.«
»Ach egal«, meinte Kitty und ließ ihn einen Moment zur Ruhe kommen, ehe sie sich ernsteren Themen zuwandte. »Heute habe ich mich vorbereitet«, verkündete sie und packte ihren Notizblock und das Aufnahmegerät aus.
Die Art, wie Archie das Gerät anstarrte, machte sie nervös. Sie würde sich in den Hintern treten, wenn er jetzt absprang, wo sie doch wusste, dass sich viele Leute mit Aufnahmegeräten unbehaglich fühlten. Wie man die Kamera als Idioten-Magneten bezeichnen konnte, brachte der Recorder oft die Schüchternheit der Menschen zum Vorschein. Kaum jemand mochte den Klang seiner eigenen Stimme, und das Aufnahmegerät zwang einen obendrein zu der befangenen Erkenntnis, dass jemand genau hinhörte und das Gesagte noch einmal abspielen könnte, so dass die Situation weniger einer Unterhaltung und mehr einem Interview ähnelte.
»Wenn es Ihnen unangenehm ist, kann ich auf das Gerät auch verzichten.«
Aber Archie winkte ab, als wäre ihm das vollkommen gleichgültig.
»Wir haben gestern über den Tod Ihrer Tochter gesprochen …«
»Über den Mord an meiner Tochter«, korrigierte Archie sie sofort.
»Ja. Über den Mord an Ihrer Tochter. Dass die Ermittlungen sich ausschließlich auf Sie konzentriert haben und dass Sie das Gefühl hatten, die Polizei würde sich dadurch von der Suche nach dem wahren Mörder ablenken lassen.«
Er nickte.
»Ich dachte, darüber könnten wir heute noch ein bisschen ausführlicher reden. Wie Sie sich damals gefühlt haben, wie frustrierend es für Sie gewesen sein muss, dass niemand auf Ihre Hinweise hören wollte, obwohl es entscheidende Informationen waren.«
Wieder einmal sah er sie mit seinem typischen amüsierten Funkeln in den Augen an. »Glauben Sie, das interessiert jemanden?«
»Aber natürlich, Archie. Das ist doch der schlimmste Albtraum, den man sich vorstellen kann, und Sie haben ihn durchlebt. Die Leute werden fasziniert sein zu erfahren, wie sich so etwas wirklich anfühlt, und ich glaube, dass es dabei helfen wird, die Meinung der Leute über Sie zu ändern. Sie wissen schon, bei Job-Bewerbungen und so – statt nur zu sehen, dass Sie im Gefängnis waren, versteht man, wer Sie wirklich sind. Nämlich ein Vater, der seine Tochter beschützen wollte.«
Er sah sie an, und seine Augen wurden sanft, sein Unterkiefer, seine Schultern, alles entspannte sich. »Danke.«
Kitty wartete.
»Aber das ist nicht die Geschichte.«
»Wie bitte?«
»Klar ist der Mord an meiner Tochter ein Teil davon, ich glaube sogar, dass es viel mit dem zu tun hat, was damals passiert ist, und es war ja auch einmal meine Geschichte, aber jetzt nicht mehr.«
Kitty warf einen Blick auf ihre Notizen. Sie hatte bis um halb vier heute früh in Sallys vernünftigem Gästezimmer gesessen und gearbeitet. »Und was ist Ihre Geschichte?«
Er senkte die Augen. »Ich habe nie an Gott geglaubt. Nicht mal in der Schule, als mein frommer Lehrer uns die Angst und die Schuldgefühle eingebläut hat. Natürlich hab ich geglaubt, dass er daran glaubt, aber ich dachte, er ist verrückt. Er spinnt einfach. Ich dachte, wenn jemand einen zwingen muss, an etwas zu glauben, dann ist es nicht wert,
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