Hundert Namen: Roman (German Edition)
hinunter, der inzwischen längst kalt sein musste. Man konnte die dünne Kalkschicht vom Wasserkocher auf der Oberfläche treiben sehen. Archie schwieg sehr lange.
»Weiß Ihre Familie von der Sache, die ich angeblich nicht glauben werde?«, versuchte Kitty ihn nach einer Weile wieder auf das Thema zurückzulenken.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, davon weiß niemand.«
»Dann kriege ich also einen Exklusivbericht.«
»Ah, da haben wir’s, der alte Paparazzo ist zurück.«
Kitty lachte. »Haben Sie denn überhaupt Kontakt zu Ihrer Familie?«
»Nein«, antwortete er leise. »Na ja, sie haben Kontakt mit mir, aber … Na ja, ich habe einen Bruder in Mayo. Frank. Er ist fünfzig und will heiraten, ist das zu glauben?«
»Liebe kennt keine Altersgrenze«, gab Kitty zurück. Sie versuchte, nicht sarkastisch zu klingen, scheiterte aber kläglich.
»Sie glauben also nicht an die Liebe?«, sagte Archie.
»Diese Woche glaube ich an so gut wie gar nichts mehr.«
»Und da wollen Sie mir einreden, dass Sie mir glauben werden?«
»Bisher haben Sie einen ziemlich ehrlichen Eindruck auf mich gemacht. Außerdem hängt meine Zukunft von Ihnen ab.«
Er grinste. »Was halten Sie von Gott?«
»Ich glaube nicht an ihn«, antwortete sie offen.
Er nahm es zur Kenntnis. »Wissen Sie, was ich von der Liebe halte? Ich glaube, die Liebe kann uns bis zur Unkenntlichkeit verändern und zu liebeskranken, blinden, weichbirnigen Idioten machen.«
»Das ist Ihnen bestimmt nie passiert«, neckte Kitty.
»O doch. Als ich meine Frau kennengelernt habe. Sie war hinreißend. Allerdings war ich damals sowieso ein kompletter Idiot. Ich glaube, dass die Liebe die Menschen weicher machen kann. Aber mich macht die Liebe inzwischen nur noch wütend, schrecklich wütend, sie verbrennt mir die Haut und sickert in mein Blut und bringt das Schlimmste in mir zum Vorschein. Deshalb sollten die Menschen, die ich liebe, mich besser nur von fern lieben. Aus Mayo zum Beispiel. Oder Manchester. Wo auch immer.«
Kitty bat ihn um eine nähere Erklärung.
»Meine Liebe zu einem Menschen äußert sich in negativer Form«, antwortete er. »Schattenhaft, bedrohlich, sie hat nichts gemein mit dem ganzen kitschigen Mist, den man auf irgendwelchen Karten lesen kann, oder mit den süßen Worten, die Verliebte sich zuflüstern. Bei den meisten Leuten führt Liebe zu wunderbaren Höhenflügen, aber mich reißt sie in die Tiefe. Ich bin ein Dämon, jederzeit bereit, die Menschen, die ich liebe, zu verteidigen, zu beschützen, koste es, was es wolle.«
»Nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, was Sie durchgemacht haben.«
»Meinen Sie?« Er sah sie überrascht an.
»Aber natürlich.«
»Die letzten sieben Jahre habe ich mich gefühlt wie ein Monster, das keine Ahnung hat, wie man richtig liebt. Und obwohl mir das klar ist …« Wieder versank er in Gedanken. Kitty konnte fast zusehen, wie er sich wieder abschottete, wie die Anspannung zurückkehrte, wie der harte Kerl seinen Schutzwall um sich aufbaute.
Sie musste etwas sagen, bevor der redebereite Archie ganz verschwunden war. »Archie, sagen Sie es mir.«
Eine lange Zeit starrte er auf die Tafel mit den Tagesgerichten, dann wandte er sich wieder nach der Frau um. Und seufzte, offensichtlich hin und her gerissen.
»Sagen Sie es mir«, wiederholte Kitty fest.
»Manchmal …« Er stockte. »Manchmal höre ich, was die Leute beten.«
Kitty zog die Augenbrauen hoch und wartete, dass er anfing zu lachen, dass er ihr sagte, dass es ein Witz gewesen war, aber sein Gesicht blieb ernst. Das alles analysierte sie in den wenigen Sekunden, die ihr blieben, um diese Geschichte zu gewinnen oder zu verlieren. Im gleichen Augenblick stand die Frau auf, verließ das Café, und Archies Augen folgten ihr. Doch dann wandte er sich wieder Kitty zu, wahrscheinlich, weil er darauf wartete, dass sie das Gleiche tat. Aber Kitty ging lieber ein Risiko ein.
»Und was hören Sie bei ihr, wenn sie betet?«
Erneut schien es ihn zu überraschen, dass ihre Frage nicht negativer war und dass sie direkt zum Punkt kam.
»Bitte«, antwortete er und schien schon etwas ruhiger. »Sie sitzt jeden Morgen eine halbe Stunde hier und sagt ›bitte‹. Immer nur ›bitte‹.«
Im Bus zu ihrem nächsten Ziel massierte sich Kitty erst einmal kräftig die Schläfen. Ein Mann, der die Gebete anderer Leute hörte? Was in aller Welt sollte sie denn davon halten? Sie konnte die Geschichte einfach fallenlassen, von Archie gleich zu einem anderen
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