Hundert Namen: Roman (German Edition)
Namen auf der Liste übergehen, mit einem anderen Kandidaten sprechen. Einem normalen Menschen. Mit so einer knappen Deadline und Pete im Nacken hätte sie das wahrscheinlich tun sollen, aber sie konnte so nicht mit der Liste umspringen, es war nicht ihre, es war die von Constance. Kitty dachte an ihr früheres Selbst, das ganz wild darauf gewesen war, Leute wie Archie kennenzulernen und solche Geschichten zu hören. Sie dachte daran, was Constance sie gelehrt hatte, und ihr wurde klar, dass es genau die Art von Geschichte war, über die Constance hätte berichten wollen. Die Art von Geschichte, die die dreiundzwanzigjährige Kitty, frisch vom College, zu ihrem Vorstellungsgespräch mitgebracht hätte, eine Geschichte, die Constance fasziniert hätte – denn sie erforschte am liebsten alles Ungewöhnliche, alles, was aus der Reihe tanzte, alles, was nicht den Konventionen entsprach. Kittys Herz begann zu klopfen, als sie begriff, welche Möglichkeiten sich hier für sie eröffneten. Vielleicht hatte Archie die Gebete von Mary-Rose, Birdie, Eva oder Ambrose gehört, vielleicht hatte er eine Verbindung zu all den anderen Menschen auf der Liste. Sie musste der Sache unbedingt auf den Grund gehen.
Nachdenklich starrte sie auf die Worte, die sie instinktiv auf ihren Block gekritzelt hatte.
Name Nummer siebenundsechzig: Archie Hamilton.
Titel der Geschichte: Der Mann der Gebete – gejagt, heimgesucht, auserwählt
Kapitel 19
Inzwischen war Petes Deadline nicht mal mehr eine Woche entfernt, Kitty hatte keine weitere Spur, und allmählich wurde sie panisch. Ein Anruf bei Archie ergab, dass er niemanden von der Liste kannte. Nach jedem Namen, den sie ihm vorlas, stieß er ein ungeduldiges »Nein« hervor und versicherte ihr ein ums andere Mal, dass er auch keine Ahnung hatte, wie die Leute hießen, deren Gebete er gehört hatte, und nachdem Kitty bei Nummer acht der Liste angekommen war, legte er wortlos auf. Falls es möglich war, dass er die Gebete der Leute auf der Liste gehört hatte und nur einfach ihre Namen nicht kannte, blieb immer noch die Frage, woher Constance das hätte wissen sollen. Die realistische Antwort lautete, dass so etwas schlicht unmöglich war. Die Verbindung zwischen den Namen auf der Liste konnte also nicht in Archies seltsamer Fähigkeit liegen.
Kitty musste unbedingt mehr Leute von der Liste kennenlernen, denn sie brauchte mehr Hinweise, sie brauchte Informationen. Also setzte sie sich auf eine der Stufen am Temple Bar Square und wählte die Nummer des vierten Namens. »Mr Vysotski, mein Name ist Kitty Logan, ich schreibe für die Zeitschrift Etcetera und rufe Sie an wegen …«
»Haben Sie die Pressemitteilung erhalten?«, fiel ihr eine Männerstimme mit einem fremden Akzent aufgeregt ins Wort.
»Wie bitte?«
»Die Pressemitteilung. Wir haben sie gestern herausgegeben. Ich freue mich sehr, dass Sie die Nachricht erhalten haben. Werden Sie zu unserer Pressekonferenz kommen?« Er war so eifrig und begeistert und redete so schnell, dass Kitty grinsen musste.
»Ja, Mr Vysotski, aber …«
»Bitte sagen Sie Jedrek zu mir!«
»Wo ist denn Ihre Pressekonferenz, Jedrek?«
»Das steht auf dem Blatt! Heute, zwölf Uhr mittags. Erin’s Isle GAA Club , bitte verpassen Sie sie nicht!«
»Nein, nein, ich komme!«
»Versprochen? Es gibt auch Kuchen und Tee. Wird bestimmt nett, ja? Mrs Vysotski kann sehr gut backen.«
»Ich werde da sein, Jedrek.« Damit legte sie auf und war gespannt auf diesen neuen Zuwachs zu ihrer Sammlung skurriler Charaktere.
Aber zuerst musste sie sich einem Dilemma stellen. Sie hatte einen Termin mit Eva Wu abgemacht, zum Hochzeits-Vorbereitungs-Brunch im Four Seasons, wo Eva George Webbs Familie kennenlernen sollte, dessen Auftrag sie schließlich doch angenommen hatte. Eva oder Jedrek, Eva oder Jedrek? Kurz entschlossen wählte sie Evas Nummer und sagte ihr zum zweiten Mal ab. Dann nahm sie die Visitenkarte, die Sally ihr gegeben hatte, und wählte abermals. »Hallo, ich rufe an wegen der Dozentenstelle für TV-Präsentation. Meine Freundin Sally Collins hat mir gesagt, ich soll mich bei Ihnen melden.«
Viertel nach zwölf traf Kitty im Erin’s Isle GAA Club ein, fünfzehn Minuten zu spät zur Pressekonferenz. Als der Bus durch Finglas, Colin Murphys Wohnort, gekommen war, hatte sie schnell den Kopf gesenkt, dabei aber trotzdem die Augen nach ihm offengehalten. Leise öffnete sie jetzt die Tür zum Club, in der Hoffnung, sich unbemerkt und ohne jemanden zu
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