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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition)
Autoren: Lukas Bärfuss
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wäre, nicht, wenn er nüchtern und bei Sinnen war. Der Mitarbeiter gab uns zu verstehen, dass Goldmann an jenem Tag angetrunken im Arboretum erschienen sei, und der kleine Paul fragte entgeistert, warum ihn niemand von dieser gefährlichen Arbeit abgehalten habe. Das hätten sie versucht, meinte der Vorsteher kleinlaut, aber er habe sich nicht zurückhalten lassen, erstens, weil die Rettung des Baumes keinen Aufschub duldete und Goldmann zweitens niemanden an seinen Lieblingseukalyptus gelassen habe. Dazu schnitt der Mann ein Gesicht, als sei Goldmann nicht das Opfer eines forstwirtschaftlichen Unfalls, sondern einer unglücklichen Liebesaffäre. Ficifolia dienten keinem anderen Zweck als der Zierde, und ich erinnerte mich beim Anblick der schmucken roten Blüten, die den Boden um die Abbruchstelle wie mit Blut sprenkelten, voller Schrecken an den Baum derselben Art, der im Garten von Haus Amsar stand.
    Erst auf dem Rückweg nahm ich die Schönheit dieses Baumgartens wahr, die Sorgfalt, mit der die Bäume in Reih und Glied gepflanzt waren, wie Säulen einer riesigen Kathedrale, von einem lichten Laubgewölbe überdacht. Neben jenen aus Übersee gab es einheimische Arten wie Newtonia aus den Nebelwäldern des Nyungwe, manche mit rankendem Amarant bewachsen, einer Liane, die nur einmal in zehn Jahren blüht, und dann treibt
Urubogo
, wie sie diese Pflanze hier nannten, weißfedrige Blüten. Aus der Ferne sahen die Baumkronen aus, als wären sie von Schimmel befallen, ein Zeichen des Unglücks nach der Überzeugung der Einheimischen, denn der blühende Amarant soll Krieg, Hunger und Dürre bringen.
    Die Zeichen bewahrheiteten sich in doppeltem Sinne. Die geringere der beiden Katastrophen war Goldmanns Tod. Der Forstingenieur sei kurz nach vier Uhr verstorben, teilte uns ein betretener Stationsarzt mit, und ich weiß noch, wie der kleine Paul einen Moment lang kein Wort herausbrachte, den Arzt anstarrte und wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft schnappte. Sie hätten alles versucht, verteidigte sich der Arzt, doch die Mittel seiner Krankenstation seien sehr beschränkt, wie wir selber sehen könnten, gegen eine Sepsis sei er machtlos, und so weiter, das übliche Gejammer eben. Er war sich nicht zu blöd, uns aufzufordern, an geeigneter Stelle in Kigali ein gutes Wort für ihn einzulegen, und falls das nicht möglich sei, so bitte er wenigstens darum, ihm die völlige Unschuld seiner Station an Goldmanns Tod zu bescheinigen. Paul antwortete nicht, stand wie paralysiert da; er konnte einfach nicht glauben, dass dieses Land es wagte, einen unserer Mitarbeiter umzubringen, nicht nach allem, was Goldmann und die ganze Direktion für die Leute hier getan hatten.

Den Leichnam hatten sie in den Keller gebracht, sie hatten ihn ausgezogen, aber ihm seltsamerweise die Unterhose angelassen, als schämten sie sich, das Geschlecht eines Umuzungu zu entblößen. Goldmanns Kiefer war mit einem Stück Leinwand fixiert, und die Wunde über seinem rechten Ohr schien größer geworden zu sein, ein Lappen der Kopfschwarte hing wie ein loser Flicken herunter.
    Wir standen in diesem ungekühlten Keller, mehr ein Erdloch, und kamen überein, dass wir den toten Goldmann so schnell wie möglich nach Kigali bringen und von dort in die Schweiz überführen mussten, aber weil es bald dunkel wurde, verschoben wir die Suche nach einer Transportmöglichkeit auf den nächsten Morgen. In Goldmanns Büro im Verwaltungsgebäude des Arboretums packten wir seine wenigen Habseligkeiten zusammen, Fotografien, einen Kompass, Geländekarten, seine Handbibliothek. Das Abendessen ließen wir aus, tranken zwei doppelte Whiskys, und gingen bald auf unsere Zimmer.
    Goldmanns Tod war eine schlimme Sache, aber wenn ich ehrlich bin, bestand die wirklich große Katastrophe für mich darin, dass bei unserer Rückkehr ins Ibis der Schirm verschwunden war. Ich glaube nicht an Zauberei, habe nie daran geglaubt, aber etwas vom Aberglauben, der dieses Land beherrschte, fiel an jenem Tag auf mich, und es schien mir auf einmal denkbar, dass sämtliche Geschehnisse auf unentwirrbare Weise miteinander verbunden waren, die Sache in Brüssel, der Entenkopf, Goldmanns Tod. Ich wusste nicht wie, und ich zermarterte mir den Kopf, wütend über mich selbst, weil ich mittags nicht länger gewartet und keine Notiz hinterlassen hatte. Die Nacht verbrachte ich zur Hälfte mit Goldmanns Aufzeichnungen, und die restlichen Stunden wälzte ich mich auf meinem Bett, unruhig und in schweren
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