Hundert Tage: Roman (German Edition)
entfernt hatte. Wieder unterlag ich dem Zwang, diese Frau von meiner Aufrichtigkeit zu überzeugen, und wenn dies geschehen war, würde ich sie der guten, der richtigen Sache zuführen. Sie würde bleiben und sich ihrer Heimat verschreiben, so wie es ihre Pflicht war. Aber das alles ergab nur einen Sinn, wenn ich meinen Posten behalten konnte, und weil ich nicht glaubte, Marianne von meiner Wandlung überzeugen zu können, blieb mir nur der kleine Paul.
Ich besuchte ihn am nächsten freien Samstag. Ines, seine Frau, kochte Tee und servierte Haferplätzchen. Wir saßen im Zimmer, das Paul für seine Gesteinssammlung reserviert hatte. Vier wuchtige Schränke standen da, in tiefen Schubladen lagen die Fundstücke, jedes in einem säuberlich beschrifteten Fach, insgesamt anderthalb Tonnen Material, wie der kleine Paul stolz betonte. Bei jeder Versetzung benötigte er eine Sondergenehmigung, damit die Direktion die Transportkosten übernahm. Sie hatten keine Freude an seiner Leidenschaft. Er nippte am Tee, gesittet, kicherte dazu und hatte dabei etwas von einer alten Jungfer, die sich diebisch über eine Ungezogenheit amüsiert.
Der Tee war scheußlich, es war chinesischer Rauchtee, der nach Speck schmeckte, sauteuer, wie ich vermutete. Mit den trockenen, kaum gesüßten Haferplätzchen ging er eine ganz und gar ungenießbare Mischung ein, als schlucke man einen abgebrannten Pferdestall. Trotzdem trank und aß ich, und der kleine Paul lehnte sich zurück, wandte den Blick gegen die Decke und erzählte von seinen Strapazen bei der Auffindung der typischen Gesteinsarten. Paul ruhte nicht, bis er von jedem Mineral einen Brocken in seine Sammlung legen konnte. Manche, erzählte er, waren leicht zu finden, er brauchte sich nur nach ihnen zu bücken. Sandsteine und Metaquarzite etwa traten natürlicherweise an die Oberfläche. Anders die vulkanischen Mineralien, sagte er, bevor er plötzlich aufsprang und eine Schublade auszog. Mit spitzen Fingern entnahm er einem Fach einen gelblich-porösen und dabei unscheinbaren Kiesel. Für dieses Stück Tuff, meinte er triumphierend, habe er den Nyiragongo bestiegen. Die Ranger hatten ihn für einen Verrückten gehalten, weil er sich nicht für Gorillas interessierte und nur Augen für die Steine besaß. Und dabei war der Tuff einfach zu finden, im Vergleich zu den Mühen, die ihm der Gabbro bereitete. Eine einzigartige Verbindung aus Klinopyroxen und Hornblende, die ihm noch fehlte, doch das Fach war bereits beschriftet, in das er zu liegen kommen sollte. Er hatte in Kibungu nach ihm gesucht, am südlichen Ende der Akagera, hatte drei Landarbeiter angeheuert und sie die Gegend umgraben lassen.
Pauls Augen leuchteten, als berichte er von einer umworbenen Geliebten, die durch ihr abweisendes Verhalten nur begehrenswerter wurde. Eines Tages wollte er es in Bugarama versuchen, aber vorderhand konzentrierte er sich auf die Erze, obwohl deren Beschaffung keinerlei geologische Kenntnisse erforderte. Aus eigener Kraft kam man niemals an die interessanten Schichten, zu tief lagen sie in der Erde. Er war auf die Minen angewiesen. Zinnerz und Amblygonit überließen sie ihm für ein paar Francs. Die Spezialitäten hingegen, Wolfram und Kassiterit, erforderten geschicktes Verhandeln. Er zeigte mir eine Zinngraupe aus Gatumba und ein besonders schönes Stück Beryll. Früher hat man ihn zu Linsen geschliffen, sagte er, das deutsche Wort für Brille leitet sich daraus ab.
Und auf einmal veränderte sich Pauls Tonfall. Er schloss die Schubladen, setzte sich und schien nach den richtigen Worten zu suchen, als bereitete er einen Gedanken vor, der schwierig zu verstehen war, oder als wollte er ein Geheimnis lüften. Zur Zeit arbeite er an einem System, vergleichbar mit der Astrologie oder dem chinesischen Lunisolarkalender. Er habe herausgefunden, dass es zu jedem Stein eine entsprechende Persönlichkeit gebe. Die allermeisten Kooperanten, sagte er, entsprächen dem Orthogneis. Sie seien metamorph, mit allerlei Eigenschaften, die sich zu einem festen Ganzen verbinden. Die einzelnen Bestandteile seien unablösbar miteinander verschmolzen, und diese Menschen, wie das Gestein, seien unempfindlich gegen Druck. Sie halten eine Menge aus, aber wehe, wenn sie brechen. Sie zerbersten mit einem glatten, sauberen Riss quer durch ihre Persönlichkeit – Paul machte mit seiner Hand eine Bewegung, als spalte er den Kopf eines imaginären Kooperanten. Was die meisten zermürbe, sei nicht das Elend, das wir bei
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