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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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unserer Arbeit zu sehen bekämen, sondern die Heimatlosigkeit. Alle hätten geglaubt, Goldmann sei hart und beständig, seiner Aufgabe mit Hingabe zugewandt, und wahrscheinlich glaubte er das sogar selbst. Aber er war ein Gneis, und deshalb ungeeignet für den Internationalen Dienst. Was die Direktion brauche, das seien
mylonitische Schiefer
. Deren Ausgangsmaterial sei locker und ertrage den auf es einwirkenden Druck schlecht. Diese Leute würden von der fremden Kultur förmlich zerrieben. Ihre Persönlichkeit zerbrösele zu mikroskopischer Krümelstruktur. Nichts halte ihre Bestandteile zusammen, ihre Substanz werde lose und erodiere. Es scheine vielleicht, meinte der kleine Paul maliziös, als würden diese Leute in der Gastkultur aufgehen. Sie tragen die lokale Garderobe, sie machen sich mit den Einheimischen gemein, fühlen sich als Teil eines Weltgeistes. Nach seiner Theorie waren das alles bloß hilflose Versuche, die Reste ihrer Persönlichkeit zusammenzuhalten. Aber wenn sie die Phase überstanden, dann verdichteten sie sich zu harten, beständigen und trotzdem schmiegsamen Charakteren, die in der Fremde keine Heimat mehr suchten. Weil sie keine Heimat mehr brauchten. Sie wendeten sich dann vollständig der Arbeit zu, und für Paul waren die zuverlässigsten, tüchtigsten Mitarbeiter der Direktion mylonitische Schiefer. Elastisch, beständig, unempfindlich.
    Vielleicht hatte er recht. Vielleicht war ich schon zerbröselt. Aber das war mir egal. Unendlich viel wichtiger war, dass er mit Marianne gesprochen und sie dazu bewogen hatte, die Versetzung rückgängig zu machen. Ich habe was bei Ihnen gut, mein junger Freund, sagte er und trank seinen Tee aus.
    Die letzten Tage im September, den man hier Kanama nannte, waren eine Zeit des Wartens. Die Trockenzeit ging zu Ende, die Ernten waren eingefahren, das ganze Land wartete auf den Regen, der das Leben zurückbringen würde. Und bis dahin hatte jeder Zeit im Überfluss. Wir wussten nicht, dass die Wolken nicht nur Niederschläge mit sich trugen. Der Regen, der einsetzen sollte, würde das alte Leben ein für alle Mal wegschwemmen, es war, als würde das Bekannte ertränkt, aber noch war es nicht so weit.
    Agathe wollte nach Brüssel zurückkehren, um ihre Studien fortzusetzen. Mir blieb nur noch wenig Zeit, um sie von mir zu überzeugen. Wollte ich sie ins Bett bekommen? Davor hatte ich viel zu große Angst. Wollte ich ihr beweisen, wie gut ich war, wie redlich meine Absicht, nicht dumm, nicht naiv? Ja. Und habe ich etwas davon erreicht? Nein. Bin ich hässlich? Keine Ahnung. Bin ich dumm? Gut möglich. Sind das die Gründe, weshalb ich nicht bei ihr landen konnte? Wahrscheinlich. Ist es wahrscheinlich, dass sie mich nicht wollte, weil mein Vater bloß ein Chemiker war, solider Mittelstand, nichts Außergewöhnliches? Das habe ich mir jedenfalls eingeredet. Habe ich mich zu wenig angestrengt? Mitnichten! Habe ich das Falsche gemacht? Ganz und gar nicht. Habe ich den falschen Zeitpunkt erwischt, um ihr meine Liebe zu gestehen? Allerdings, es hätte keinen falscheren geben können. Und wann habe ich dies eingesehen? Sofort, das heißt, eigentlich schon vorher, ich meine, bevor wir nach Gisenyi fuhren.
    Den ganzen Monat hatte es Gerede über Truppenbewegungen jenseits der Grenze zu Uganda gegeben. Diese Gerüchte waren nichts Neues, aber dieses Mal schienen sie dringlicher und vor allem konkreter zu sein. Die Rebellen würden sich in großer Zahl hinter den Sümpfen von Ruhuhuma formieren, so hörte man, und die Stadt Kabale sei ein einziges Militärlager. Was besonders Sorgen bereitete, war, dass Hab nicht im Lande war. Er war nach New York gereist, um mit der Weltbank über neue Kredite zu verhandeln. Ich hätte wissen müssen, wie riskant eine Reise in den Norden war, in die Nähe der Grenze, aber ich wollte mir dieses Wochenende mit Agathe nicht von irgendwelchen khakifarbenen Phantomen vermiesen lassen. Es war meine allerletzte Chance. Schon Sonntagmittag wollte sie abreisen. Und ich setzte alle Hoffnungen in diesen einen Tag. Wir fuhren Samstagmorgen los und wollten Sonntag in aller Frühe, bei Sonnenaufgang, zurück nach Kigali fahren, damit sie die Vierzehn-Uhr-Maschine erwischte. Aber so weit würde es nicht kommen. Wenn ich sie nur einmal verführt haben würde, dann würde sie ihre Reise verschieben oder ganz absagen, aber dazu brauchte ich ein Wochenende am Kivu, ein Hotelzimmer, ein paar Drinks, ein Ruderboot, einen schönen Sonnenuntergang, und das

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