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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Kombination, und in neun von zehn Fällen war nicht auszumachen, wer ein Kurzer und wer ein Langer war.
    Das galt jedoch nur für uns Europäer, die Kurzen wussten auf den ersten Blick, wer ein Kurzer war und dazugehörte, und dasselbe galt für die Langen. Wir hatten keine Ahnung, woran sie sich erkannten, ob sie ein für uns unsichtbares Zeichen auf der Stirn trugen, ob sie auf eine bestimmte Weise rochen. Sicher konnte man nur sein, wenn einer die Identitätskarte vorwies. Dort war das Nichtzutreffende gestrichen, als wollten die Behörden dem Bürger nicht nur deutlich machen, was er war; er sollte ebenfalls sehen, zu wem er ganz gewiss nicht gehörte und welches Schicksal ihn in seinem Leben erwarte, ob er eine höhere Schule besuchen durfte, eine Stelle in einem Ministerium erhielt oder Offizier werden konnte – alles Dinge, die nur Kurzen offen standen und für die Langen unmöglich waren. Seit der Unabhängigkeit von 1962 waren sie von Schule, Politik, Militär ausgeschlossen – es blieben ihnen nur die unteren Ränge der Gesellschaft, wo die Kurzen sie in Ruhe ließen, solange sie stillhielten und nicht gegen ihr Los aufmuckten. Natürlich fanden wir die Unterdrückung der Langen ungerecht, aber wir entschuldigten sie, weil dieses Problem eine Büchse der Pandora war und jeder, der es im Namen der Gleichheit und der Brüderlichkeit lösen wollte, Mord und Totschlag riskierte. Sicherheit war wichtiger als Gerechtigkeit, jedenfalls war sie ihre Voraussetzung – und natürlich auch die Bedingung für unsere Entwicklungsarbeit. Hab und seine Regierung sorgten für Ruhe und Ordnung – und uns genügten die Beteuerungen, dass nach der Verfassung kein Mensch durch seine Herkunft benachteiligt war. Nur jeder Zehnte war ein Langer, und dazu gab es Quoten, die den Langen den Zugang zu den höheren Schulen und den Ministerien sicherten, theoretisch, und dass sie nicht eingehalten wurden, dass es nicht einen langen Bürgermeister und auch keinen langen Minister gab, war bloß ein Schönheitsfehler, an dem die Langen nicht unschuldig waren. Über Jahrhunderte hatten sie die Kurzen unterdrückt, nur aus ihren Reihen waren die Könige gekommen, sie hatten die Monarchie gestellt – und wir von der Direktion mochten keine Aristokraten. Und selbst in einer Demokratie hätten sich die Langen der Mehrheit der Kurzen beugen müssen, die überdies vor den Langen hier gewesen waren, soviel man wusste, und man wusste nicht besonders viel, weil sie ihre Geschichte niemals aufgeschrieben, sondern von Generation zu Generation weitererzählt hatten. Und um die Sache noch komplizierter zu machen, gab es neben den Kurzen noch Kürzere, etwas wie Pygmäen, die Twa, die Paul so mochte und von denen es hieß, sie seien die Allerersten in diesem Land gewesen. Aber in jenen Tagen waren sie bis auf ein paar verstreute Gruppen verschwunden, man bekam sie seltener zu Gesicht als Elefanten. Das einzige Zeugnis dieser Jäger waren manche Hügel mit den Namen der längst verschwundenen Tiere, die sie einst gejagt hatten.
    Wann die Kurzen die Kürzeren vertrieben hatten, war unbekannt, wahrscheinlich schon vor Beginn der Zeitrechnung. Jedenfalls hatten die Kurzen schon damals sämtliche Wälder gerodet, die Twa und ihre Beute vertrieben, und auf der fruchtbaren Erde hatten sie sich vermehrt und zu Clans versammelt. Ihren König nannten sie den Obersten Ackerbauer. Er urteilte über Leben und Tod, trieb Steuern ein, und wenn er starb, wurde sein Leichnam über einem Feuer getrocknet, man gab ihm Diener mit auf die Reise ins Jenseits, und über seinem Grab pflanzte man einen Wald. Nur im Norden des Landes überdauerten einige ihrer Reiche bis in unsere Zeit, denn irgendwann wanderten aus dem Norden, vom Albertsee und vom Bahr el-Ghazal, dem Gazellenfluss, der in den weißen Nil fließt, Hirten ein. Niemand wusste, wie sie es anstellten, aber nach kurzer Zeit hatten sie sich die Ackerbauern untertan gemacht.
Gihanga
um das Jahr tausend war der erste König des neuen Reiches. Er zog mit seinem Gefolge durch Mubari und ließ sich in Gasabo, am westlichen Ende des Mohazi-Sees nieder. Seine Insignien waren ein Hammer und die Trommel Rwoga, und seine Dynastie überdauerte neunhundert Jahre. Einer seiner Nachfolger, Mutara Semugushi, glaubte an die ewige Wiederkehr der Geschichte und bestimmte, dass der sich wiederholende Zyklus acht Regierungszeiten dauern und aus ebenso vielen Königen bestehen sollte, deren Namen Mutara Semugushi festschreiben ließ.

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