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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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sein wie vorher. Mich braucht es dazu nicht, und ich fand diese Argumentation solipsistisch, und einen Moment erwog ich, Agathe das wissen zu lassen, nicht nur, weil ich ihr widersprechen wollte, sondern weil ich hoffte, dass sie nicht verstehen würde, was solipsistisch bedeutet und ich ihr es erklären könnte. Ich entschied mich dagegen, fragte sie stattdessen, was sie denn interessiere, aber das hätte ich besser nicht getan, weil mich ihre Antwort wie eine Faust traf, das heißt, um ehrlich zu sein, es war ein wenig komplizierter. Ich interessiere mich für Jungs, antwortete sie nämlich, und ich konnte ihrer Stimme nicht den leisesten Zwischenton entnehmen, nicht einen Anflug von Doppeldeutigkeit. Ihre Antwort war klar, ernst und schamlos. Sie hätte genauso gut antworten können, sie interessiere sich für die Kunst des neunzehnten Jahrhunderts oder für die Zeremonienmasken der Lega. Jungs. Ich zählte bestimmt nicht zu diesen Jungs. Ich sah bloß breitschultrige, erfahrene, draufgängerische
Jungs
, und ich war nichts von alledem.
    Aus irgendeinem Grund war meine Wunde noch nicht tief genug, und sie sollte nicht denken, eine solche Äußerung würde mich aus der Fassung bringen. Was interessiert dich denn an Jungs, fragte ich also, und ich weiß, wie idiotisch das ist. Sie kicherte bloß, und in diesem Moment erschienen über dem Kivu ein lange Reihe Pimmelmänner, und ich sah, wie Agathe einen um den anderen zu studieren begann, so wie man Insekten studiert, aber leider war meiner nicht darunter, und ich sah keinen anderen Ausweg, als das Thema zu wechseln.
    Lass uns ein Boot leihen, schlug ich vor, aber sie hatte keine Lust dazu. Was ich nicht glauben mochte, auf eine Bootsfahrt hat man immer Lust, und nach zwei, drei Sätzen gestand sie, dass sie nicht schwimmen könne. Das ließ ich nicht als Grund gelten, und ein paar Minuten später saßen wir in einem kurzen Nachen, sie im Heck, mit einer viel zu großen Schwimmweste bekleidet, ich rudernd, die Sonne im Nacken, schwitzend, während sie sich an der Reling festklammerte, und nach einer viertel Stunde hatte sie mich überzeugt, dass eine Bootspartie tatsächlich nicht unbedingt und in jedem Fall Spaß machen muss.
    Mittlerweile schien mir die Vorstellung, mit Agathe eine Nacht im Hotelzimmer zu verbringen, keine Verheißung mehr zu sein, aber weil ich noch nicht wusste, dass wir die Nacht nicht in einem Doppelbett, sondern in meinem Toyota verbringen würden, klammerte ich mich an die Hoffnung, ein wenig Alkohol könnte die Chance erhöhen, dass Agathe in einem Land, das sie nicht interessierte, einen Jungen küsste, der sie nicht interessierte.
    Aber etwas kam dazwischen, eine Geschichte, die schon manche Romanze am Kivu zerstört und diesen See mit Leichen gefüllt hatte, eine Geschichte, die jedes Mal, wenn sie erzählt wurde, Tod und Verwüstung über das Land brachte. Schon lange hatte man die ersten Kapitel vernommen, flüsternd, doch jetzt gingen die neuen Erzähler zum Hauptteil über, und zwar mit Bruststimme.
    Es gab ein Geheimnis, ein Geheimnis, das dieses Land im Griff hatte, nein, es war kein Geheimnis, denn jeder wusste Bescheid, es war ein Tabu, für alle verbindlich, es hatte die Geschichte seit Anbeginn bestimmt und griff in der Gegenwart in das Leben eines jeden Einzelnen. Die Menschen waren nicht einfach Menschen, nicht nur Schuster, Bäuerin, Arzt, Fahrer, Sohn, Mutter, Tochter, was auch immer. Zuallererst gehörte jeder Mensch entweder zu der Gruppe der Langen oder zu den Kurzen. Die Expats scheuten die korrekten Bezeichnungen, es waren verbotene Namen: mit Unheil verbunden, mit Morden, Vertreibungen, Revolutionen, Krieg. Und niemals fragten wir einen Menschen nach seiner
Zugehörigkeit
, wie wir es nannten, weil wir nicht wussten, was diese Gruppen streng genommen waren, Stämme, Ethnien oder Kasten. Ob Kurze oder Lange: Sie sprachen alle dieselbe Sprache, und wir hatten keine Ahnung, wie wir sie zweifelsfrei unterscheiden sollten. Es gab natürlich lange Lange, solche, die hoch gewachsen waren, eine vergleichsweise helle Haut und eine schlanke Nase hatten; und daneben gab es kurze Kurze, dunkler als die Langen, gedrungener, mit breiten Nasen und üppigen Lippen, und wenn es nur solche Typen gegeben hätte, wäre die Sache einfach gewesen. Aber es gab leider auch kurze Lange und lange Kurze; Lange, die groß gewachsen waren und eine dunkle Haut besaßen, helle Kurze mit feinen Nasen, dunkle Lange mit dicken Lippen – jede mögliche

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