Hundert Tage: Roman (German Edition)
Stufen erklomm die schmale Straße einen Gipfel, wo wir kurz vor Morgengrauen ausstiegen und einen Moment innehielten, still wurden beim Anblick der tausend Hügel, die sich im letzten Mondlicht bis an den Horizont zogen. Der ganze Westen des Landes lag ausgebreitet vor uns, wie eine Aquatinta von Daubigny oder Chodowiecki, und ich war mit einem Mal dankbar für diese Nacht. Egal was uns geschehen würde, ich würde mich immer an diese Fahrt erinnern, und es war egal, dass Agathe nun leise weinte und mich beschimpfte, weil sie langsam die Hoffnung verlor, rechtzeitig in Kigali einzutreffen.
Wir folgten der Straße, die uns steil hinab in Richtung Gitarama führte, an felsigen Böschungen entlang, über von allem Humus entblößte nackte Steinkruppen. Mit der Sonne erschienen die Menschen. Frauen, Kinder, Männer lösten sich aus den Feldern, und mir wurde bewusst, dass uns das Land nur ausgestorben erschienen war und wir die ganze Nacht mitten durch die schlafenden Menschen gefahren waren.
Na ja, Agathe verpasste den Flieger, und ehrlich gesagt war das nur ausgleichende Gerechtigkeit. Jetzt würde sie eine Woche festsitzen, dachte sie, dachte auch ich, aber tatsächlich verließ sie ihr Land nie wieder. Sie hätte in den vier Jahren danach tausend Möglichkeiten gehabt, aber irgendwie wurde sie schon in diesen Tagen mit dem Bazillus infiziert, mit dem Hass, der sie schließlich vergiftete und umbrachte, auch wenn ich lange nichts davon bemerkte und sie noch eine ganze Weile, bestimmt ein Jahr, eher mehr, wie bis anhin vor sich hin lebte. Ich habe mich oft gefragt, was geschehen wäre, wenn ich damals nicht auf unserem Ausflug bestanden hätte. Sie wäre nach Brüssel gereist, keine Frage, wir hätten uns nie wiedergesehen, ich hätte die hundert Tage nicht in Kigali verbracht, und vielleicht würde Agathe sogar noch leben.
Man hörte, die Regierungstruppen hätten den Angriff am selben Abend zurückgeschlagen, aber dann verbreitete die BBC in den nächsten Tagen die Meldung, die Rebellen stünden schon in Kabiro, sechzig Kilometer tief im Landesinnern. Auf ihren Fersen Flüchtlinge, die vierzig Jahre in Uganda ausgeharrt hatten, Männer, Frauen, Kinder, die zurück in das Land ihrer Vorväter wollten. In Kigali hatte man keine hohe Meinung von der Regierungsarmee, man traute ihr nicht besonders viel zu. Sie war zwar mit Waffen aus französischer Produktion ausgerüstet, Panhard-Panzerwagen und Hubschraubern des Typs Gazelle, aber die Truppen waren zu klein, kaum mehr als fünftausend Mann, um den Menschen ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Die Soldaten hatten zudem noch nie einen Krieg von nahem gesehen, es waren Kasernenzöglinge, gut gefüttert, wohl gehalten, aber faul, nicht zu vergleichen mit der Armee der alten Könige, den legendären Kriegern, die das Land jahrhundertelang vor den Sklavenhändlern geschützt hatten. Es waren die
Kakerlaken
, wie man die Rebellen nannte, die nun dieses Erbe angetreten hatten. Nach ihrer Vertreibung in den sechziger Jahren hatten sie sich den ugandischen Rebellen angeschlossen, dort zu den wichtigsten Verbänden gehört und den Sieg miterrungen. Sie wussten, wie gekämpft werden musste, und deshalb hatten wir Angst und waren misstrauisch, als Berichte verbreitet wurden, die Regierungstruppen hätten die Versorgungswege der Rebellen nach Uganda abgeschnitten.
Hab ließ Tausende verhaften, viele Lange wurden von der Straße weg ohne Angabe von Gründen ins Gefängnis geworfen, darunter zwei der Damen, die in der Direktion am Schalter arbeiteten. Natürlich war das nicht in Ordnung, und der kleine Paul und Marianne protestierten beim Justizminister und verlangten die Überprüfung der Haftbedingungen. Wir besuchten die Gefängnisse und waren entsetzt über die Zustände – zwanzig Menschen in einer Zelle, die für fünf gebaut worden war, verstopfte Klos, verschmutztes Trinkwasser –, aber so scharf die Protestbriefe formuliert waren, in den persönlichen Gesprächen ließen wir die Beamten wissen, wen wir für diese Situation verantwortlich machten und auf welcher Seite wir standen.
Und war es deshalb nicht verständlich, wenn sich Mariannes Wut und der Zorn des kleinen Paul ganz alleine gegen die Rebellen richtete, gegen den Krieg, den sie angezettelt hatten und der die Projekte gefährdete, die Arbeit von vierzig Jahren und drei Generationen Entwicklungshelfern? Lag die Schuld für die Wirren, für die Morde, für all die Probleme, mit denen das Land nun überzogen
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