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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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nächsten Samstag riss sie die Pavonien aus und legte Gemüsebeete an. Ich sagte keinem etwas davon, hatte auch niemanden um Erlaubnis gefragt, ich rechnete nicht damit, dass jemand etwas dagegen haben könnte. Warum auch. Im Gegenteil. Die Langen hatten bei der Direktion an Sympathie gewonnen, man begriff langsam, dass wir die ganze Zeit Rassisten unterstützt hatten, und wir beeilten uns, etwas für die Opfer zu tun, und das waren eben in erster Linie die Langen. Wir beförderten ein Projekt zur Entwicklung der Menschenrechte, etwas, das uns dreißig Jahre nicht einen Tag lang beschäftigt hatte, und wir suchten verzweifelt nach Möglichkeiten, die geforderte Äquidistanz zu den Parteien zu halten. Wir suchten nach unverfänglichen Projekten, gegen die niemand etwas haben konnte, und fuhren zu den Kindern nach Gisagara, sechsundvierzig Waisen, die unter freiem Himmel lebten, sich selbst überlassen, halbnackt, jede Woche starb eines von ihnen, den anderen fraßen die Fliegen den Eiter aus den schwärenden Wunden. Sie hatten ihre Eltern an eine Seuche verloren, die einige Jahre zuvor unter den Schwulen in New York aufgetaucht war. Niemand konnte sagen, wie dieses Virus in die entlegenen Gebiete der Kivuprovinz geraten war. Wir wussten bloß, dass in Kigali zwanzig Prozent der Menschen infiziert waren, und in manchen Gemeinden auf dem Land wurden ganze Generationen dahingerafft. Da diese Seuche nur durch den direkten Austausch von Körperflüssigkeiten übertragen wurde, mussten diese Leute neben der offiziellen, von der katholischen Kirche erlassenen Sexualmoral eine zweite, private Moral besitzen. In den Kreisen der Entwicklungshelfer beschädigte diese Tatsache das Ansehen der Einheimischen. Nicht, weil sie es taten, sondern deswegen, weil sie unter keinen Umständen darüber zu sprechen bereit waren. Sie schwiegen beharrlich, verweigerten Präservative und schienen prüder zu sein als die Mädchen vom Kirchenchor, was nicht nur mich erstaunte. Ich hatte geglaubt, Afrikaner seien dem Naturzustand näher, und der Naturzustand bedeutete für mich nicht in erster Linie
Jeder gegen Jeden
, sondern vor allem
Jeder mit Jeder
, und jetzt stellte sich heraus, dass sie es zwar taten, es aber beständig abstritten. Sie konnten uns nicht erklären, wie diese Viren die Runde machten, und die Gesunden entschieden sich, Schweigen für die beste Medizin zu halten und jene zu isolieren, die krank wurden, bis sie tot waren, und danach ihre Waisen sich selbst zu überlassen.
    Wir wollten ihnen in Gisagara ein Haus bauen, eine Schule, eine Krankenstation, und in dieser Sache trafen Paul und ich den Bürgermeister, mit dem wir im einzigen Lokal der Gemeinde ein zähes Huhn aßen. Wir waren nicht das erste Mal dort. Der Mann sperrte sich gegen unser Projekt. Bevor er ein Waisenhaus bewilligte, verlangte er nach einer Straße, und um eine Straße bauen zu können, brauchte er ein Telefon. Er meinte, bevor die Waisen eine Schule verdienten, verdiene der Hügel von Gisagara eine Straße. Es sollte schließlich allen Bürgern seiner Gemeinde gut gehen, nicht nur den Waisen. Andernfalls könne er nicht für ihre Sicherheit garantieren, weil der Neid die Bauern befalle, wenn sie die schöne neue Schule, die Krankenstation sähen. Sie würden ihre eigenen Kinder sehen, die sie kaum zur Schule schicken konnten, und daneben die Waisen, denen es eigentlich schlechter gehen sollte, wenn die Natur zu ihrem Recht kam.
    Wir hatten keine Wahl. Die Kinder waren auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen der Bauern ausgeliefert. Eines Tages würden wir weggehen und die Leitung den Lokalen überlassen, und wenn wir wollten, dass es den Kindern nachhaltig gut ging, dann brauchten wir das Einverständnis der Bauern.
    Deshalb saßen wir mit dem Bürgermeister in der einzigen Kneipe der Gemeinde, nippten Hirsebier, während er auf seinem Stuhl hin und her rutschte und die nicht vorhandenen Falten aus seiner Donald-Duck-Krawatte strich. Sein breites Gesicht beherbergte den ewigen Frohsinn, und er knackte die Knorpel von den Knochen und schwadronierte über seine Ausbildung am Technikum in Kigali. Wie jeder der einhundertvierzig Bürgermeister des Landes war auch er vom Präsidenten persönlich in sein Amt gesetzt worden. Theoretisch verkörperte der Gemeinderat die Ortsgewalt, aber weil seine Mitglieder oft nur die Grundschule besucht hatten, war der Rat wie ein Bulle, der vom Bürgermeister am Nasenring geführt wurde. Jede Gemeinde war in zehn Sektoren

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