Hundert Tage: Roman (German Edition)
nicht tat und lieber zu mir kam, um sich an meiner Schulter auszuweinen. Wir tauschten einige Küsse, aber ein verlässlicher Freund war ihr jetzt wichtiger, einer der zuhören konnte, ein Junge aus der anderen Welt. Und ich achtete darauf, Agathe nicht zu bedrängen, ihr das Gefühl zu geben, dass jemand sie verstand. Ich wusste, wonach sie sich sehnte, nach Plaudereien, nach Nichtigkeiten.
Ein Geist bewohnte Haus Amsar. Von seinem Erscheinen zeugten nur der scharfe Geruch von Wasserstoffperoxid, die gebügelten Hemden im Schrank, der volle Bierkasten, die gestapelten Zeitschriften. Samstags konnte es vorkommen, dass ich von einem Poltern erwachte, und wenn ich dann aufstand, sah ich manchmal den vorbeihuschenden Schatten einer kleinen, drahtigen Gestalt. Der Geist schien unbekannte Wege zu kennen, Durchgänge, um ungesehen von einem Zimmer ins nächste zu kommen. Schritte waren kaum zu hören. Bloß das leise Schmatzen, wenn nackte Füße über gefliesten Boden huschen, aber einmal, an einem Samstagmorgen, als ich mich gleich nach dem Aufstehen, noch in Unterhose und unrasiert, mit einem Kaffee vor den Fernseher gesetzt hatte, um mir
König Salomons Diamanten
anzusehen, den Missland mir geliehen hatte, stand der Geist plötzlich vor mir. Eine alterslose Person, von der ich erst nach einer Weile sagen konnte, dass es eine Frau sein musste. Ohne mich anzusehen, murmelte sie einen Gruß und räumte dann die leeren Flaschen und Pistazienschalen vom Vorabend weg. Zuerst fragte ich nach ihrem Namen. Erneste. Wo sie wohne. Unten in den Sümpfen. Alleine? Mit meinem Mann. Kinder? Sieben. Wer nach ihnen sehe, wenn sie arbeite? Sie wandte ihren Blick ab. Machte sich wieder an die Arbeit. Ich erzählte dem kleinen Paul davon. Sie gehöre zu Haus Amsar, erklärte er. Seit vielen Jahren schon. Ob sie nicht an einem anderen Tag kommen könne, samstags wäre ich gerne alleine gewesen. Er schüttelte den Kopf. Sie besorge noch andere Häuser, aber ich solle sie einfach nicht beachten. Tun und lassen, wonach mir der Sinn stehe. Und höflich und bestimmt auftreten. Nicht mit freundschaftlichem Geplauder beginnen, ihr deutlich machen, wer Herr im Hause sei.
Ich versuchte es, aber es gelang mir nicht recht. Ich hatte keine Übung in dieser Rolle. Ließ mich in Gespräche verwickeln, in zu persönliche Gespräche, und nach und nach erfuhr ich, dass sie aus dem Süden stammte. Eine Lange war sie, allerdings eine untypische, gedrungen, dunkel, so klein, dass ihre Füße kaum auf die Pedalen ihres Fahrrads reichten, ein alter eingängiger Inder, mit einem gepolsterten Sitzbrett, dort wo sonst der Gepäckträger ist, und mit einem Schild über der Vorderlampe:
Wer sich beeilt, kommt schneller zu Gott
. Sie lebte ohne Genehmigung in Kigali. Sie und ihr Mann hatten als junge Eheleute die Unordnung kurz nach dem Militärputsch von vierundsiebzig genutzt und waren ohne offizielle Genehmigung in die Hauptstadt gezogen. Seit siebzehn Jahren lebte sie mit der Angst, zurück auf ihren Hügel geschickt zu werden. Ernestes Mann war das jüngste Kind einer zwölfköpfigen Familie. Als sein Vater starb, war dem jungen Ehepaar bloß ein matratzengroßes Stück Land zugefallen. Zu wenig, um davon zu leben. In Kigali hatte der Mann sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen, bis er nach einigen Jahren eine Stelle als Platzanweiser auf der Busstrecke Kigali – Gitarama gefunden hatte. Als die ältesten Kinder groß genug waren, um für die Ziegeleien Lehm aus den Sümpfen zu schaufeln, besann er sich auf seine Rolle als Familienoberhaupt, kündigte seine Stelle und beschränkte sich darauf, die Löhne seiner Frau und der Kinder zu verwalten. Das hieß, so viel wie möglich für sich einzustreichen und einmal die Woche bei der alten Witwe, die in einem Raum ihres Hauses Hirsebier ansetzte, vorbeizuschauen und so lange zu trinken, bis das Geld oder das Bier alle waren.
Sonst tat er nichts. Saß vor dem Haus. Hörte den ganzen Tag Radio. Kümmerte sich nicht einmal um den kleinen Acker, wo Erneste Maniok zog, Bananen und Avocados – zu wenig, um neun Mäuler zu stopfen. Sie musste Lebensmittel zukaufen, was teuer war und die ganze Familie beschämte. Sie besaßen nicht genug Land, um sich zu ernähren, und der Gang auf den Markt war der Beweis ihrer Armut.
Ich hatte Mitleid, aber vor allem hatte ich einen großen Garten. Ich überließ ihr einen schmalen Streifen, gleich an der Mauer, auf der sonnigen Seite. Zuerst war sie irritiert, aber schon am
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