Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
Vom Netzwerk:
unterteilt, und die wiederum in Zellen, und diese waren nicht nur Verwaltungsbezirke, sondern gleichzeitig Parteigliederungen. Es gab keine unabhängigen Strukturen, und selbst die unterste Ebene der Sektorenleiter wurde von der Verwaltung in Kigali kontrolliert. Jeder Bürger kannte seinen Platz und seinen Vorgesetzten und gehorchte Befehlen, die direkt aus der Hauptstadt kamen.
    In den europäischen Zeitungen konnte man später viel lesen von Stammesgewalt, archaischer Brutalität, aber tatsächlich war der Völkermord nur möglich, weil dieser Staat jeden einzelnen Bürger organisierte und ihm einen festen Platz in der Gesellschaft gab. Niemand konnte sich entziehen, es gab keine Möglichkeit, unterhalb des Radars zu fliegen. Jeder musste mitmachen, egal wie die Aufgabe lautete. Und jeder wusste alles, niemand konnte sich verstecken, überall waren Spitzel am Werk, und so kam es, dass dieser Bürgermeister über mich Bescheid wusste.
    Wir kämpften gerade das Bastkörbchenduell, wie Paul das nannte, und natürlich waren wir dabei, es ein weiteres Mal zu verlieren. Die Bedienung brachte die Rechnung in einem geflochtenen Bastkörbchen. Paul war der Meinung, der Bürgermeister habe uns eingeladen und müsse bezahlen, aber so einfach konnte man ihm das nicht ins Gesicht sagen. Der ignorierte das Körbchen standhaft und erzählte seine Lebensgeschichte, dass er nur vorübergehend Vorsteher dieser rückständigen Gemeinde sei, so lange, bis die für ihn vorgesehene Stelle in der Ministerialbürokratie in Kigali frei wurde. Er erläuterte seine Herkunft, die Herkunft seines Vaters, dessen Rolle in der Revolution, er sprach und sprach, und einmal, als der kleine Paul sich kurz entschuldigte und wir alleine saßen, wechselte er abrupt das Thema. Er wollte wissen, ob der Gemüseanbau in meiner Heimat eine Tradition sei. Ich verstand zuerst nicht, bis er maliziös andeutete, er habe gehört, ich würde das Personal in meinem Garten Avocado, Tomaten und Maniok ziehen lassen, und er fragte mich, ob ich ihnen auch Ziegen erlauben würde oder doch immerhin Hühner, denn schließlich sei der Proteinmangel das größte Problem, gerade für diese ekelhaften, dürren Figuren, diese Kakerlaken, diese Inyenzi, Verbündete des Feindes, hinterfotzige Meuchelmörder der Republik. Ich solle nur aufpassen, dass nicht ich eines Tages für meine Kakerlake Gemüse anbaue, denn es sei bekannt, wie geschickt sie intrigierten, und kaum habe man sich versehen, sei man ihr Diener und sie seien Könige. Bevor ich fragen konnte, woher er all dies erfahren habe, kehrte der kleine Paul zurück, und der Bürgermeister verstummte, setzte sein frohes Gesicht auf, und wir kämpften weiter unser Bastkörbchenduell. Paul, der gewillt war, dieses eine Mal bis zum bitteren Ende zu spielen und nicht aufzugeben, begann nun, seine Gesteinssammlung zu erläutern, und er begann im obersten Fach des ersten Schrankes, dort in der untersten Schublade ganz rechts, ein Pyrit aus Indonesien, seine erste Station als Mitarbeiter der Direktion, und Fach um Fach ging er nun seine ich weiß nicht wie viele hundert Proben durch, und er gab sich keine Mühe, die Aufzählung über ihre Entstehung, die besonderen Merkmale, ihre technische Verwendung abzukürzen oder auch nur in eine für einen Laien verständliche Sprache zu kleiden, ganz im Gegenteil. Er kostete die Fachbegriffe aus, und nach zehn Minuten war ich so gelangweilt, dass ich damit rechnete, der Bürgermeister würde sehr bald zermürbt sein und die Rechnung bezahlen, um die Sache zu beenden. Ich hatte recht, aber nur beinahe. Statt die Zeche zu begleichen, lehnte er sich einfach in seinem Stuhl zurück, legte das Kinn auf die Brust, und nach drei Atemzügen erfüllte ein tiefes Schnarchen das Lokal.
    Deshalb gewannen sie jedes Bastkörbchenduell, und deshalb kriegten sie auch ihre Straße. Erstens schämten sie sich nicht, vor Fremden zu schnarchen, und zweitens hatten sie alle Zeit und jede Geduld. Wir ließen den Mann schlafen, bezahlten und fuhren nach Kigali. Paul ärgerte sich, meinte, noch nie habe er einen härteren Bürgermeister getroffen, er könne sich diese Dickköpfigkeit nicht erklären. Aber schließlich resignierte er, sah ein, dass der Mann sich nicht würde umstimmen lassen, und so schrieb ich schließlich den Antrag zum Bau eines Anschlusses der Gemeinde Gisagara an die Überlandstraße dreizehn.
    Sie wurde noch vor der Einführung des neuen Vorsitzenden der Einkaufsgenossenschaft bewilligt, zu

Weitere Kostenlose Bücher