Hundert Tage: Roman (German Edition)
dass niemand auf die Idee kommen würde, dass ich mich hinter diesem Namenlosen verbarg. Aber es kam natürlich trotzdem ans Licht. Jemand in der Zentrale beschwerte sich über den Alarmismus, den das Kooperationsbüro verbreite, und wollte wissen, warum die Direktion, die doch für ihre Besonnenheit bekannt war, Gräuelpropaganda in die Welt setze. Marianne schimpfte, der kleine Paul sprach eine Woche nicht mit mir, ich gab mich reuig, fand aber insgeheim, dass die Sache den Ärger wert gewesen war. Immerhin hatte der Artikel mich meiner Bedeutung versichert, und schließlich konnte niemand leugnen, dass Kigali ein heißes Pflaster geworden war.
Die vormalige Ruhe war dahin, aber wenigstens verflog die Langeweile und die Gefahr wirkte sich auf mich belebend aus. Ich schlief weniger, trank mehr Kaffee, war ganz allgemein von einer Unruhe befallen, aber ich bin nicht sicher, ob es der Krieg war oder nicht vielleicht doch die Sache mit Agathe. Sie hatte mich angerufen und erzählt, dass sie in Kigali bleiben werde. Ihr Vater wolle sie bei sich haben. Aus ihrer Heimatstadt Ruhengeri waren Verwandte gekommen, die Lage im Norden war unsicher geworden, ein Onkel mit seiner Frau, zwei Vettern und drei Cousinen lebte nun in ihrem Haus in der Avenue de la Jeunesse. Platz gab es ohnehin schon wenig, und die Mutter brauchte jede Hand, um das Haus und die Gäste zu versorgen. Agathe war das Leben in der Familie nicht mehr gewohnt, nachdem sie in Brüssel ihre Unabhängigkeit zu schätzen gelernt hatte. Schon der eine Monat nach dem Papstbesuch war eine Tortur gewesen. Und jetzt musste sie auf unbestimmte Zeit in diesem Kaff bleiben, wo man als Frau nicht alleine in eine Bar gehen konnte und sogar in einem normalen Restaurant von irgendwelchen dahergelaufenen Burschen in Uniform behelligt wurde. Ich glaubte, das alles wären gute Voraussetzungen, um unsere Beziehung zu vertiefen. Nur Agathe sah das anders. Sie wollte sich nicht mit mir treffen, erstens, weil sie mir die Schuld gab, dass sie in Kigali festsaß, und zweitens aus Angst, man könnte sie für eines der Flittchen halten, die im Chez Lando nach Europäern Ausschau hielten. Sie sagte mir das nicht offen ins Gesicht, aber für mich war die Sache klar. Unsere Beziehung würde zudem nicht mehr geheim zu halten sein, dann müsste sie mich bei ihrer Familie einführen, und die Vorstellung, wie ich und ihr Vater zusammentreffen würden, bereitete ihr Albträume.
Ich ließ ihr Zeit. Die Sehnsucht nach einem Ausländer, einem, der nicht zu ihrem Clan gehörte, führte sie wieder zu mir. Wir trafen uns heimlich, sie ging am Samstagnachmittag nicht zum Tennis in den Cercle sportif, sondern besuchte mich in Haus Amsar und schüttete ihr Herz aus. Ich sterbe vor Langeweile, sagte sie. Mein Onkel ist ein ungebildeter Holzkopf, er hat Mundgeruch und verpestet unser Haus mit seinem Kölnischwasser, und das wäre alles noch zu ertragen, wenn nicht die Vettern da wären. Sie belagern mich, begaffen mich, lauern mir auf. Es sind Provinzler, stöhnte sie, von der allerschlimmsten Sorte. Sie haben in ihrem Leben keine zwei Bücher gelesen, und Kigali ist für sie eine Weltstadt, kannst du dir das vorstellen? Und ihr Lieblingsbruder, der Einzige in der Familie, der ihr etwas bedeutete, hatte keine Zeit für sie. Er war führendes Mitglied in einer Partei, der Republikanischdemokratischen Bewegung. Statt mit Agathe auszugehen, was für sie die einzige Möglichkeit gewesen wäre, unbescholten etwas Spaß zu haben, besuchte er Versammlungen, schrieb Traktate, agitierte und führte mit ihrem Vater abends auf der Veranda endlose Streitgespräche über die Zukunft des Landes, die neue Verfassung, die Ziele der Rebellen und so weiter, lauter Langweiligkeiten, die Agathe nicht im Geringsten interessierten.
Ich war erstaunt, wie wenig sie über den Krieg sprach, für sie waren die Unruhen lediglich etwas, das sie an einem aufregenden Leben hinderte. Das Schicksal ihres Landes schien ihr egal zu sein oder sie nur so weit zu betreffen, wie es ihr eigenes beeinflusste. Ich verstand das nicht, und gleichzeitig amüsierte mich ihre politische Liederlichkeit. Ich hätte etwas darum gegeben, wenn in meinem Land so viel in Bewegung gekommen wäre wie hier, ganz egal, dass niemand wusste, worauf das Ganze hinauslief und also die Zukunft ungewiss war. Ich verstand Félicien, ihren Bruder, ich hätte mich bestimmt wie er in diese Wirren gestürzt, und gleichzeitig war ich natürlich froh, dass Agathe es
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