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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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wurde, nicht ganz allein bei den Rebellen? Im Prinzip konnte man verstehen, wenn sie in ihr Land zurückkehren wollten, aber sie hätten nicht vergessen dürfen, dass sie die geschichtlichen Verlierer der Revolution von 1961 waren. Durften etwa die Sudetendeutschen heimkehren, oder die drei Millionen vertriebenen Schlesier? Was wäre mit Europa geschehen, wenn jeder dorthin zurückkehren wollte, wo seine Eltern mehr oder weniger zufällig einmal gelebt hatten? Um des Friedens willen durfte dies nicht geschehen. Nur diese starrköpfigen Rebellen hatten nicht begriffen, dass ein altes Unrecht nicht mit einem neuen aus der Welt geschafft wird. Dabei ging es ihnen nicht einmal um ihre Heimat, obwohl sie das behaupteten. Museveni, den sie im Krieg gegen Obote unterstützt hatten, hatte die Langen fallenlassen. Das war der Grund für ihren Angriff.
    Ich sagte es keinem, aber ich mochte die Aufregung, die Stimmung in Kigali, die Straßensperren, die kurzgeschorenen Rekruten, die mit nacktem Oberkörper und in Zweierkolonnen durch Kigali liefen. Die Fremdenlegionäre, die Frankreich keine zwei Wochen nach dem Überfall entsandte und die ihre Jeeps in halsbrecherischem Tempo durch Kigali steuerten, den Krieg in ihren entschlossenen Gesichter, ich mochte sie, wer mag sie nicht, ich meine, nicht sie selbst, aber die Stimmung, die sie verbreiteten. Denn viel bekamen wir in Kigali vom Krieg nicht zu spüren. Die Gefechte fanden im Norden statt, an der Grenze zu Uganda, weitab von unserer Aufmerksamkeit.
    Es gab Einschränkungen, so war es in den ersten Monaten nicht klug und später sogar verboten, sich abends nach zwanzig Uhr im Freien aufzuhalten. Die Gendarmen benahmen sich rüde, die gerade erst in den Dienst Getretenen ganz besonders. Leute wurden aufgegriffen, grundlos verprügelt, ausgeraubt und eingesperrt, und selbst Botschaftsangehörige wurden nicht geschont; ein Mitarbeiter der kenianischen Vertretung wurde abends in Kigali von Soldaten beschossen, was den kleinen Paul besonders empörte. Barbaren schimpfte er diese Leute, von denen wir nicht wussten, zu welcher Seite sie gehörten. Klar war nur: Auch wir konnten zur Zielscheibe werden. Marianne ließ die Sicherheitsvorkehrungen verstärken. Jedes Haus bekam einen Wachmann und ein zusätzliches Telefon – und auf die Dienstwagen klebten wir große Schilder mit der Aufschrift SCHWEIZER.
    Das Land war zu Bedeutung gekommen. Wir saßen nicht mehr in irgendeinem vergessenen, unbedeutenden Land irgendwo in Afrika, ich arbeitete jetzt an einem der heißen Plätze der Welt. Wir saßen auf einem Pulverfass, aufregend, verstörend, eine Stadt, die von Gerüchten beherrscht wurde, dunkel und vollkommen verwandelt. Es war, als hätten wir in den Jahren zuvor nur die Kulissen gesehen, und jetzt hatte jemand die Staffagen um hundertachtzig Grad gedreht. Von nun an lebten wir in den dunklen Eingeweiden, im blanken, nackten Gerüst, auf jener Seite, die die wirkliche war, die echte, und die schöne, geordnete, wohlbestallte Seite war eine Täuschung gewesen.
    Wir verstanden die Leute nach wie vor nicht, wussten oftmals nicht, was sie im Innersten antrieb, aber jedenfalls war dieses ewige Lächeln verschwunden, das Land hatte seine Maske abgelegt. Kigali erschien nun beinahe täglich in den Meldungen der internationalen Presse, Artikel aus der New York Times und der London Times, aus Le Monde und der Neuen Zürcher Zeitung wurden herumgereicht und diskutiert, und wir gaben vor, uns über die Fehler und Flüchtigkeiten der Journalisten zu ärgern. In Wahrheit bestätigten sie nur unsere Überlegenheit. Wir wussten besser Bescheid als die Schreiberlinge, die in den Redaktionsstuben in Nairobi, Kapstadt oder bestenfalls Kampala hockten. Die wenigsten von ihnen hatte man je in Kigali gesehen.
    Einmal geschah es, dass ich in der Botschaft den Anruf eines Reporters einer Schweizer Zeitung entgegennahm, der eigentlich mit Marianne sprechen wollte. Es ging um Informationen zur Sicherheitslage, und aus irgendeinem Grund behauptete ich, die Koordinatorin sei abwesend, draußen im Feld, aber ich könne genauso Auskunft geben. Ich hielt mich an die Wahrheit, wählte bloß etwas drastische Worte für an sich harmlose Begebenheiten, und irgendwann in den nächsten Tagen las ich in der Zeitung seinen Artikel, nach dem man annehmen musste, in Kigalis Straßen herrsche selbst bei Tageslicht Mord und Totschlag. Als Quelle wurde ein hoher Beamter der Schweizer Vertretung angeben, und ich hoffte nur,

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