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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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dessen Ehren im Hauptsitz eine kleine Feier stattfinden sollte. Als mich Paul dazu in Haus Amsar abholte, hatte ich den Gemüsegarten längst vergessen. Und ich erinnerte mich erst mit einem kalten Schrecken an die Sache, als ich mir die Krawatte band und dabei Paul beobachtete, der auf der Veranda stand und in die Richtung starrte, wo die Beete lagen. Was ist das da, David, fragte er. Gemüsebeete, antwortete ich und gab mir Mühe, so selbstverständlich wie möglich zu klingen, aber sein Gesicht verwandelte sich in ein großes Fragezeichen. Woher ich die Zeit nehme für den Gartenbau, wollte er wissen, und da musste ich ihm erklären, wem das Gemüse gehörte und welche Erfolge mein bedingungsloser Einsatz für die Entwicklung des Landes gezeitigt hatte, nämlich die Verdoppelung der Kalorienzahl für eine achtköpfige Familie, und ich erinnerte ihn an die Anbauschlacht, mit der unsere Väter und Großväter unser Heimatland durch den Krieg gebracht hatten. Das Fragezeichen wurde größer, sein offener Mund markierte den Punkt, und ich begriff langsam, wie schlecht er die Idee fand. Das geht doch nicht, brummte er, mein junger Freund, das geht nun wirklich nicht. Das ließ nichts Gutes ahnen, denn immer wenn er mich mit
Mein junger Freund
anredete, folgte kurz darauf eine Maßregelung, aber vorderhand schwieg er noch und drängte mich zur Eile.
    Als wir im Wagen saßen, versuchte ich, die peinliche Stille mit einer Erklärung zu überbrücken, sagte, Erneste würde mir dann und wann etwas Gemüse überlassen, aber er schlug mit der flachen Hand auf das Lenkrad, bevor er es herumriss, auf die Bremse trat und den Wagen am Straßenrand stehen ließ. Er schrie mich an, nannte mich einen Trotzkopf, halsstarrig bis zur Unerträglichkeit. Ein Kooperant habe sich an die Realitäten zu halten, und eine der herausragenden Realitäten dieses Landes sei, dass es Hierarchien gebe. Erneste putzte nicht nur bei Expats, sie putzte auch bei den Beamten, die über unsere Projekte entschieden. Und wir würden es bei diesen Leuten sehr, sehr schwer haben, wenn sie erfuhren, dass wir unsere Gärten dem Personal zum Gemüseanbau überließen. Wenn wir uns schon von den Angestellten gängeln ließen, dann würden uns die Minister auf der Nase herumtanzen, und mir dämmerte langsam, weshalb der Bürgermeister auf die Straße bestanden hatte. Er hielt mich und Paul für Weichlinge, Philantropen, denen alles abzuschwatzen war. Mein kleiner Gemüsegarten hatte die Direktion eine Straße gekostet, ein paar hunderttausend Schweizer Franken, Geld, das man genauso gut den Schweinen hätte verfüttern können. Es gab nämlich in Gisagara genau einen Wagen, der diese Straße benutzen konnte, und das war jener des Bürgermeisters.
    Aber es kam noch schlimmer, denn der kleine Paul zwang sich von einer Sekunde zur anderen zur Beherrschung. Im Rückspiegel tauchte eine Gestalt auf, ein Umuzungu in einem grasgrünen Jackett, vielleicht fünfzig, ein Glatzkopf mit einer großen Brille, einem Mund ohne Lippen, weder dick noch dünn, vielleicht etwas aufgeschwemmt wie viele Weiße in den Tropen. Unter den Arm hatte er eine zerbeulte Rindsledermappe geklemmt, und wie er da dem Hauptsitz der Einkaufsgenossenschaft entgegenschlurfte, hätte man ihn für einen Gymnasiallehrer halten können. Aber dass er alles andere als ein Pauker war, bemerkte ich, sobald der kleine Paul aus dem Wagen hechtete und dem Mann entgegeneilte, ihn mit weit ausgestreckten Armen auf eine Weise begrüßte, als hätten sich die beiden seit Jahren nicht gesehen. Ich konnte mir nun ausmalen, wer dieser Mann sein musste, von dem ich viel gehört hatte, Andeutungen, Gemunkel, Gerüchte, aber dem ich bis dahin nie begegnet war.
    Manche nannten ihn Rasputin, andere auch nur den Kardinal Mazarin. Jedenfalls war er der persönliche Berater des Präsidenten und der mächtigste Europäer des Landes. Und dazu einer unserer Leute, ein Schweizer. Seit den ersten Tagen unserer Zusammenarbeit hatte die Direktion dem Präsidenten einen Berater zur Verfügung gestellt. Jeannot beriet den Präsidenten in allen Fragen der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung. Schrieb seine Reden. Entwickelte die Strategie für die Verhandlungen mit der Weltbank. Alle Papiere, die an die Regierung adressiert waren, mussten über seinen Schreibtisch. Die Direktion bezahlte ihn, aber wir hatten keinerlei Einfluss auf seine Arbeit. Er schrieb keine Berichte, erhielt keine Anweisungen, und er hätte sich auch nicht

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