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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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Fernsehen war erfunden worden, der Fotoapparat, und so wenig sich die internationale Presse für dieses kleine, ruhige, friedliche Land im Herzen Afrikas interessiert hatte, so sehr interessierte sie sich für Bilder von Massakern, von Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, für die Geschichten von Mord und Totschlag. Die physische Auslöschung des politischen Gegners war nicht nur unmoralisch, sondern inopportun und der eigentlichen Sache, der Entwicklung, abträglich. Das sagten wir ihnen, und sie machten lange Gesichter und nickten betroffen, und dann gingen sie nach Hause, schrieben Mordaufrufe und bestellten hunderttausend geschliffene Macheten chinesischer Produktion.
    Wir glaubten damals, den Verantwortlichen in Militär und Politik würde die Sache entgleiten, wir waren so dumm zu glauben, dass sie überfordert seien. Was wir sahen, glich einem Chaos, und dabei war ihre Geschichte gerade dabei, zurück in die Ordnung zu fallen. Alles wurde bereitgestellt, Verantwortlichkeiten wurden verteilt, Aufgaben zugewiesen, und die ganze Aufregung an der Oberfläche war nur der Nebel, der zur Tarnung erzeugt wurde. Scheingefechte, damit wir abgelenkt waren. Die Minister klagten, klagten über fehlende Schreibblöcke, fehlendes Geld, fehlende Wagen, fehlende Telefonapparate. Wenn wir nur die Mittel hätten, um uns zu wehren, jammerten sie, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, wenn nur der Kaffeepreis nicht mit jedem Monat fallen würde; wenn uns nur nicht das Strukturanpassungsprogramm der Weltbank den Hals zuschnüren würde, wenn sich die internationale Presse nur nicht gegen uns verschworen hätte; wenn unser Präsident nicht ständig zu Verhandlungen nach New York, Paris oder London reisen müsste, dann hätten wir die Möglichkeit, Frieden und Sicherheit zurückzubringen.
    Ja, wir glaubten ihnen, und wir halfen ihnen, wir gaben ihnen weiterhin, was sie benötigten. Sie bemühten sich doch redlich, und wir wollten sie erlösen, wollten ihnen geben, wessen sie bedurften, um zurück auf den Pfad der Tugend zu finden. Wie niederträchtig ist es, einen Freund im Augenblick der höchsten Not im Stich zu lassen, und es waren unsere Freunde, sie waren es seit dreißig Jahren, warum hätte sich etwas daran ändern sollen? Wir waren rechtschaffen und wollten es bleiben, und dazu gehörte Standvermögen, auch wenn wir ihnen erklärten, dass unsere Geduld nicht ewig währen würde. Wir zeigten es, indem wir die Gelder für die Projekte um keinen Franken kürzten, sie stattdessen aber lediglich um ein Jahr verlängerten. Unseren jährlichen Rechenschaftsbericht überschrieben wir mit
Ein befreundetes Land in Schwierigkeiten
, und unsere Rechtschaffenheit gebot uns, bei steigenden Schwierigkeiten die Anstrengungen zu erhöhen.
    Aber alles war vergebens, und der Grund dafür war die nackte Angst, die jeden befiel. Und wen sie noch nicht gepackt hatte, dem wurde sie eingeimpft, eingetrichtert, eingestampft, und zwar mit endlosen Reden im Radio, in Versammlungen, eine Angst, von der die meisten von uns keine Ahnung hatten, weil wir sie nie gefühlt hatten, auch nicht unsere Eltern, auch nicht unsere Groß- oder Urgroßeltern, die Krieg nie am eigenen Leib erfahren hatten. Wir begriffen nicht, wie verführerisch die Angst ist, wir hatten keine Ahnung von ihrer rasenden Verbreitung, denn sie bewegte sich in diesem Bantuidiom, in dem alle Zeitungen abgefasst waren, alle politischen Versammlungen abgehalten und die Sendungen im Radio gesprochen wurden. Die Sprache der Vernunft war Französisch und hielt sich an die Bürozeiten von neun bis siebzehn Uhr, Montag bis Freitag. Die übrige Zeit, abends und an den Wochenenden, herrschte die andere Sprache, die mir gerade so weit geläufig war, dass ich den Hass verstand, das Grauen, die Hetze. Es war nicht notwendig, jedes einzelne Wort zu verstehen, um das Alphabet der Angst darin zu erkennen, die Unflätigkeiten, mit denen der politische Gegner überzogen wurde, die Schreckensvisionen, die gezeichnet wurden. Ich verstand den Zweck dieser anderen, neuen, unbekannten Sprache, und ihr Zweck hieß Schrecken, ein Schrecken, der sich von Tag zu Tag tiefer in die Gesichter der Menschen eingrub.
    Auch in Agathes Gesicht hatte sich dieser Schrecken gegraben, in ihre Augen, die kaum mehr zur Ruhe fanden, hin und her geisterten, als erwarteten sie von überall einen Hieb, einen Streich, als lauere hinter jeder Hausecke eine Falle. Sie suchte in allem Lüge und Verschwörung, und sie fand beides

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