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Hundert Tage: Roman (German Edition)

Hundert Tage: Roman (German Edition)

Titel: Hundert Tage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lukas Bärfuss
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konnte, und wenn sie sich über den Krieg äußerte, der zu jener Zeit noch weit weg war, irgendwo im Norden, dann tat sie es mit Besorgnis, ohne Zorn. Sie verurteilte die Rebellen, aber weniger für das, was sie wollten, vielmehr für das, was ihre Absichten anrichteten.
    Damit war sie nicht alleine, weiß Gott nicht, wir alle dachten so, wir vermissten den guten Ton, das Wohlwollen, und alle Argumente, die die Rebellen vortrugen, mochten wir nicht diskutierten, bevor sie sich nicht zu Anstand und Friedfertigkeit verpflichtet hatten. Wir waren rechtschaffene Menschen, und unsere Biederkeit, unsere tadellosen moralischen Ansichten verbanden uns mit den Angegriffenen, die nie etwas anderes als Brot und Kleidung für ihre Menschen gewollt hatten. Wir waren mit einem Auftrag in dieses Land gekommen, mit einer Idee, aber diese Kerle, die in unserer Vorstellung so aussahen, wie die Karikaturen in den Zeitungen sie zeigten, dünn, federstrichig, mit enormen Käppis auf den kleinen Köpfen und noch größeren Schuhen an den langen Beinen, diese Kerle hatten keine Idee, keine Moral. Sie hatten zwei Länder verloren, jenes, aus dem man sie vor dreißig Jahren vertrieben hatte, und das andere, in dem sie zu ausgemusterten und nicht mehr gelittenen Kämpfern geworden waren. Das reichte uns nicht.
    Es reichte nicht, auf einem Heimatland zu bestehen, es reichte nicht, ein vergangenes Unrecht sühnen zu wollen, es reichte nicht, die Ehre der Väter wiederherstellen zu wollen. Es reichte nicht und war verbrecherisch, wenn dadurch die Arbeit auf den Feldern, die Bildung in der Schule, der Friede des Landes gefährdet wurden. Wir waren Europäer, wir wussten, wer die Verlierer des Krieges waren, und wir wussten, dass sie ihre historische Niederlage akzeptieren mussten, auch wenn ihre Vertreibung ein Verbrechen gewesen war. Aber die Sühne hätte ein neues Verbrechen bedingt, einen neuen Krieg, und es ging darum, aus diesem ewigen Kreislauf von Rache und Vergeltung auszubrechen, den bitteren Brocken zu schlucken, nicht für sich selbst, nicht für das eigene Leben dieser landlosen Soldaten. Ihr Leben war verpfuscht, ihre Zukunft nur der Tod in der Fremde, es gab nichts, mit dem sie sich trösten konnten, und sie hatten das zu akzeptieren. Wenn sie eine Hoffnung brauchten, dann blieb ihnen nur der Glaube an eine bessere Zukunft für die Kinder ihrer Brüder, die noch in diesem Land lebten und für die wir kämpften, jeden Tag, mit immer größeren Mühen, in immer längeren Diskussionen, Sitzungen.
    Jeder Tag brachte neue Schwierigkeiten, und wir hatten uns allen Seiten zu erklären. Die Zentrale wollte Berichte, die Ministerien in Kigali wollten Treuebekenntnisse, die wir nur leisten konnten, wenn sie uns gleichzeitig vertrauten, und das bedeutete, dass wir sie kritisieren mussten, zu ihrem eigenen Wohle. Wenn sie ihre mühsam aufgebaute Ordnung unter dem Druck der Angriffe dem Verfall preisgaben, Menschen einsperrten ohne Gerichtsurteil, den Mob in die Hügel schickten, die korrupten Beamten sich ungezügelt bereichern ließen, dann würden unsere Regierungen sehr bald jede Lust an ihnen verlieren. Wir machten ihnen klar, weswegen wir sie liebten. Der Grund war nicht ihre Armut, nicht ihre schwarze Haut, denn Arme und Schwarze gab es anderswo reichlich – was uns an sie band, war nichts als ihre Rechtschaffenheit. Wir liebten sie für jene Tugenden, die man die sekundären nennt, die für uns aber von erster Bedeutung waren: Ordentlichkeit. Sauberkeit. Ehrlichkeit. Und die wichtigste von allen: Der Fleiß.
    Die unbedingte Hingabe an die Aufgabe, das verlangten wir von ihnen, und deshalb besuchten wir die Gefängnisse, mahnten frische Luft an, gesundes Essen, genügend Wasser und Bewegung und vor allem korrekte Behandlung der Gefangenen. Und wenn wir sie kritisierten, wenn wir nicht zufrieden waren, so ließen wir die Beamten spüren, dass dies nicht ein Zeichen unserer Untreue, sondern ganz im Gegenteil unserer Liebe war, wie man ein Kind tadelt, weil man es liebt, weil man die Gesetze kennt, nach denen die Welt funktioniert und die jeden vernichten, der sich nicht daran hält. Es ging nicht an, nächtlicherweise Menschen zusammenzutreiben und totzuschlagen, ihre Häuser anzuzünden, im Radio zum Mord aufzurufen, wie es nun immer häufiger geschah. Es gehörte sich nicht, selbst wenn es Gründe dafür geben mochte. Auch wenn es ihre Sitte war, immer gewesen war, auch wenn Totschlagen ihre Kultur war: Es ging nun nicht mehr. Das

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