Hundertundeine Nacht
Zwangspause im üblichen Unfallstau kurz vor Neuruppin, daß ich mich fragte, wie ich mich eigentlich an Stelle von Celines Eltern verhalten hätte. Weniger als ihre von mir lautstark beanstandete Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz ärgerte mich doch die Tatsache, daß sie Leuten wie Jablonske und Waldeck mehr vertraut hatten als mir.
Aber hier ging es nicht um mich, Dr. Hoffmann, dessen einzige existentielle Gefährdung in seiner Dauerdepression über das Fehlen jeder existentiellen Gefährdung bestand. Es ging um eine Frau in einem Land ohne Menschenrechte, ohne ordentliche Gerichte oder einklagbare Mindeststandards in seinen Gefängnissen. Auch ich hätte diesen Dr. Hoffmann nicht ins Vertrauen gezogen, wenn es um das Leben meiner Tochter ging, auf keinen Fall, ob mit oder ohne entsprechende Weisung des Verfassungsschutzes. Genausowenig wie, vorerst jedenfalls, dieser Dr. Hoffmann nun seinerseits seine neuesten Erkenntnisse an Beate oder Michael weitergeben würde.
Etwas ruhiger fuhr ich weiter. Die Opfer des Unfalls waren abtransportiert und die zerstörten Wagen an die Seite geschoben worden, und ich studierte das Bild von Tod und Verwüstung an der Unfallstelle ebenso neugierig und froh wie jeder andere, nicht selbst in diesem Wagen gesessen zu haben.
Kurz hinter Neuruppin erreichte mich eine weitere Erkenntnis: Wenn hier jemand Celine bei lebendigem Leibe beerdigt hatte, so war das Dr. Hoffmann, als er mit ihrer besten Freundin schlief, und zwar unmittelbar nachdem sich Celine mit ihrer E-Mail ins Leben zurückgemeldet hatte.
In der Position moralischer Überlegenheit bei Celines Eltern hatte ich mich bedeutend wohler gefühlt!
Kapitel 24
Gegen drei Uhr nachts war ich zurück in Berlin, noch ein paar Stunden Schlaf immerhin. Wider Erwarten schlief ich tatsächlich relativ rasch ein und fühlte mich am Morgen ausgeschlafen und gestärkt. Diskret beeindruckt, um wie viele Dinge ich mich gleichzeitig kümmern konnte, betrat ich pünktlich um halb acht den Besprechungsraum zur Morgenkonferenz – und fand mich allein.
Keine Menschenseele war zum morgendlichen Geschacher um freie Betten, Verlegungen auf andere oder von anderen Stationen und dringende Untersuchungstermine erschienen. War eine Epidemie ausgebrochen? Eine neue Terrorismusübung? Ein wirklicher Anschlag? War das Krankenhaus umstellt und von der Außenwelt abgeschnitten? Beim Blick aus dem Fenster sah alles ganz normal aus bis auf die Tatsache, daß es auf dem Personalparkplatz noch freie Plätze gab.
Ich rief auf der Station an.
»Hoffmann hier. Was ist heute los? Habe ich was versäumt?«
»Am Telefon darf ich Ihnen zu Patienten keine Auskunft geben.«
Na toll, ich hatte eine von unseren Schwesternschülerinnen am Apparat, Erklärungen oder weitere Fragen würden nur noch mehr Verwirrung stiften. Ich stürmte auf die Station, wo ich Schwester Käthe in die Arme lief.
»Dr. Hoffmann! Am Wochenende so früh in der Klinik?«
»Welchen Tag haben wir heute, Käthe?«
»Samstag. Spaghettitag!«
Vielleicht konnte ich mich wirklich um eine Menge Dinge gleichzeitig kümmern, aber wohl nicht ohne eine gewisse Fehlerquote!
Was tun mit dem angebrochenen Tag? Einer dieser spontanen Eingebungen folgend, beschloß ich eine erneute Inspektion in unserem Irak-Sammellager. Aber die Eingebung blieb eine Eingebung: Die angebliche Trinkaufbereitungsanlage stand nicht plötzlich wieder an der alten Stelle, auch an keiner neuen. Also würde man mich sicher weiterhin nach ihrem gegenwärtigen Unterbringungsort fragen – und das führte zu der nächsten Eingebung.
Am liebsten hätte ich diese Idee gleich an Dr. Hassan ausprobiert, inzwischen sicher, dabei direkt mit dem irakischen Geheimdienst zu sprechen. Aber Dr. Hassan sei an diesem Wochenende nicht im Dienst, informierte man mich auf der Niere. Sollte ich mich am Montag gleich direkt an seine Vorgesetzten wenden? Und dann auch gleich an deren direkte Konkurrenz, wenn ich schon einmal dabei war?
Zurück in meinem Dienstzimmer, legte ich die Füße auf den Schreibtisch und döste aus dem Fenster, erinnerte einen Samstagmorgen mit Celine im sommerlichen Spreewald mit duftendem Kaffee und Hühnergegacker. Aber draußen war noch lange nicht Sommer, und von Celine hatte ich seit dieser E-Mail nichts mehr gehört. Mißmutig machte ich mich über den gnadenlos angewachsenen Stapel von Formularen zur Kostenerfassung und Qualitätskontrolle her. Heutzutage ist das eine der wichtigsten
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