Hundestaffel
Autos ziehen vorbei wie ein Bach. Anna und ich sitzen auf der Mauer und halten unsere Füße in die Strömung, gaffen über den Rand hinaus in die Weite. Wir sprechen darüber, was der Sommer bringen wird. Es wird ein endloser Sommer sein. Wenn er endet, beginnt unsere Zukunft.
Anna legt mir die Worte in den Mund, sie prickeln auf meiner Zunge. Sie schaut hinunter auf die Stadt, streckt die Hand nach ihr aus und lässt ihren Finger über die erleuchteten Straßenzüge fahren wie über einen riesigen Fahrplan. Wo Anna hinzeigt, dort gibt es einen Weg. Wir alle balancieren über die leuchtenden Spuren wie über ein gespanntes Seil. Wir balancieren spielend über die Abgründe.
Ich habe dieses Gespräch mit Anna nie geführt. Aber ich gebe zu, ich hätte es mir gewünscht. Ein paar Worte mit Perspektive. Ein paar Sätze ohne Unsicherheit. Ein Atemzug mit Zukunft. So eine Sekunde, in der die Zukunft das Einfachste ist, was man sich vorstellen kann. Wo alles, was vor einem liegt, nur ein Sprung ist, hinein ins Stadtgewusel, ein Satz hinein in Wellen aus Licht, Strom und Verkehr. Sich fühlen wie ein Feuerwerk, das in den Himmel steigt. Ein Kreischen hinter sich herziehen und das Knallen von Sektkorken. Unsere Stimmen prallen gegen die Nacht und schlagen Funken. Und unter dem Donnern unserer Zuversicht schießt die Stadt ein Feuerwerk in die Nacht. Aus dem Funkeln der Beleuchtung lösen sich die Raketen, kleine, rauchende Torpedos schrauben sich in den Himmel und detonieren in der Höhe. Aus den Sprengkörpern werden schimmernde Linien in alle Richtungen geschleudert. Fäden aus Glitter ziehen sich über den Himmel, verschränken sich und bilden über uns einen krachend triumphalen Kokon. Und vergiss den Schall, der kommt erst Stunden später. Wir sind nur ein Zeichen des Sieges. Wir leuchten. Wir erkennen uns selbst am Himmel wieder: Wir steigen auf und hinterlassen am Ende ein goldenes Glimmen, unsere kleine, edle Signatur. Wir schreiben uns mit Leuchtschrift an die Mauern der Welt, hören niemals auf zu glühen und brennen uns auf ewig in die Netzhaut ein. Wir sind ein kleines Blendwerk, an der Schwelle zu einem neuen Tag. Simsalabim.
Ich sehe Anna an, sie sieht unbesiegbar aus. Mit ihr ist alles möglich. Mit den Fingerspitzen streiche ich über ihr Nierenbecken. Meine Finger tauchen in ihre Haut ein. Ich bin überrascht, wie weich sie sich anfühlt. (Preisfrage: Woher kommt das? Woher weiß ich, wie sie sich anfühlt?) Sie lächelt mich an, als wolle sie sich für irgendetwas entschuldigen. Dann löst sich ihr Bild neben mir auf. Jemand anderer hat die Fernbedienung gedrückt. Sendeschluss.
Wir sind nur Figuren, gespiegelt in der kaputten Bildröhre eines alten Fernsehers. Ein Spiel für unsere eigene Phantasie. Wir sind ein kleines Blendwerk. Wir glühen kurz auf. Dann verschwinden wir wieder.
Das Feuerwerk kracht weit entfernt.
Mit einem Knall platzten mir die Augenlider wieder auf und ich war zurück. Saß vor Hannes und Leo, der sich die blutige Nase abtupfte. Irgendwo im Lokal war ein Stuhl umgefallen. Alles sah wächsern aus. War ich kurz eingenickt?
Ich sah die beiden an und war mir nicht sicher, ob ich nicht von einem Traum in den nächsten übersiedelt war. Gab es uns wirklich, an diesem Abend, an diesem Tisch in einer Ecke, nachdem wir gerade einen Mann bewusstlos geschlagen hatten? Und die Frage meine ich ernst, James! Vielleicht hatten wir uns schon irgendwann aufgelöst! Vielleicht war da nichts mehr außer Luft, die sich gegenübersaß! Aber es muss uns wohl gegeben haben, vielleicht gerade weil der Moment sich so schwer greifen lässt. Gerade das Unvollständige hat etwas Authentisches: „Das muss doch passiert sein!“, denkst du dir. (Und fragst dich gleichzeitig, ob du dir die heiße Luft nicht irgendwie zurechtformst. Vielleicht dichtest du dir nur etwas zusammen.)
Unser Gespräch nach der Schlägerei scheint also stattgefunden zu haben, selbst wenn ich nicht mehr weiß, in welcher Kneipe wir saßen und nicht mehr sagen kann, auf welchem Weg wir dorthin gelangten. Worüber redeten wir? Wahrscheinlich führte Hannes großspurig das Wort und fluchte über den Mann. Und wir, was taten wir? Wir saßen andächtig da, blutend und verwirrt, und sagten Ja und Amen. Warum? Gute Frage, James! Woher soll ich das wissen. Keine Kritik, an nichts. Nicht wegen der Prügelei, nicht wegen nichts. Das hätte ja Rebellion bedeutet! Eine Palace-Revolution! Nein, wir verhielten uns ruhig.
Gab es denn da kein
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