Hundestaffel
Fluges verraten konnten, dass die Flüge oft verspätet eintrafen und dass das Warten anstrengend und langweilig war. Immer begleitete ihn eine junge Frau, sein Kindermädchen. Hannes entdeckte, dass man in dem Restaurant direkt an der Landebahn von ihr alles gekauft bekam, worauf man mit dem Finger zeigte. Er zeigte auf Kakao, und der Kakao kam. Das half beim Warten. Das Kindermädchen erklärte ihm, dass der Kakao hier voll sei mit Chemie. Doch Hannes interessierte sich nicht für Zutaten. Solange es seinen Zweck erfüllte, war es gut. Schon damals hatte er eine genaue Vorstellung davon, was es bedeutete, einen genauen Zweck zu haben. Was keinen Zweck hatte, hatte keinen Sinn
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Was soll denn das nun schon wieder? Da drängt sich doch schon wieder der erwachsene Hannes rein! Ich kann mir dich nicht einmal als Kind vorstellen, so groß bist du in meiner Erinnerung. Es würde mich nicht überraschen, wenn du nie eines gewesen wärst. Vielleicht warst du eigentlich immer schon da, hast immer schon mit demselben Gesicht irgendwo existiert, bist nie gealtert und nie geboren worden. Vielleicht bist du eine unsterbliche Sagenfigur, der wahre Don Juan, der immer denselben Weg geht, nur mit immer neuen Begleitern. Oder ist das eine Nummer zu groß für dich? Selbst du musst doch irgendwo deinen Ausgangspunkt haben. Nichts entsteht aus sich selbst, nichts ist unendlich. Nicht einmal du.
Der Flughafen war dem kleinen Hannes anfangs unvorstellbar groß erschienen. Er war beeindruckt. Fast war er ein wenig verängstigt. Er erzählte seinem Kindermädchen, dass er sich wünschte, einmal selbst Pilot zu werden. Von oben, so stellte er sich vor, wäre der Flugplatz nur ganz klein. Und alle Menschen würden aussehen wie Ameisen
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Daran erinnerte er sich auch kurze Zeit später, als er zum ersten Mal neben einem Ameisenhaufen stand und begeistert in die glänzenden Wogen aus Insekten sah. Im Gesicht stand ihm der Schweiß freudiger Anspannung, als er die Lupe hob und ein kleiner, krabbelnder Körper nach dem anderen unter dem sonnigen Blick des Piloten zerplatzte
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Wenn das Flugzeug mit seinem Vater endlich gelandet war, beobachtete Hannes oft das Ausladen des Gepäcks. Er wartete darauf, dass der Koffer seines Vaters auftauchte: rotes Leder, eigenartig gemustert, Schlangenhaut. Rohe, kräftige, behandschuhte Hände warfen den Koffer auf einen der Gepäckwagen. Wenn sich das Fahrzeug schließlich in Bewegung setzte, leuchtete der Koffer von unten heraus und Hannes wusste, dass sein Vater zurück war. Und jedes Mal war sich Hannes wieder unsicher, ob er sich darüber wirklich freuen sollte
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Wenn Hannes später an seine Kindheit dachte, dann fragte er sich oft, ob diese Erinnerungen vielleicht nur Produkte seiner Phantasie waren. Vielleicht entsprachen diese Bilder nur dem, was er sehen wollte. Vielleicht hatte sein Wille den Klotz seiner Gedanken so behauen, dass nur noch eine leicht bekömmliche Gestalt übrig geblieben war. Denn sein Wille war stärker als die Realität, das wusste Hannes. Die Wirklichkeit war ein überzüchteter Hund, gerade Schnauze, glattes Fell, doch unglaublich beeinflussbar – mit bloßem Willen zu unterdrücken. Hannes hatte Erfahrung damit, wie man sich Hunde zu Untertanen machen konnte. Wer die Befehle kannte, dem unterwarfen sich die Hunde; wer über die Macht verfügte, dem unterwarf sich auch die Realität. Man musste nur lernen, Macht auszuüben, sich die Befehle einprägen, auf die ein Hund reagierte
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Das Gefühl dieser Macht war berauschend. An jenem Tag, als ihm die Hunde zum ersten Mal gehorcht hatten, hatte er es auch gefühlt. Damals, als sie zum ersten Mal einen direkten Befehl ausgeführt hatten. Hannes sah die Wirkung des Befehls und begriff erst danach, dass er selbst dafür die Ursache war. Diese Verbindung schien ihm so überwältigend, dass er glaubte, den Befehl selbst, das bloße Wort, wie einen Gegenstand in seinen Händen spüren zu können. Die Schwere dieses Schatzes prickelte auf seiner Haut
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Er hatte die beiden Hunde schon als Welpen besessen, er hatte sie ausgesucht, er hatte sie aufgepäppelt, er hatte sie begleitet, war mit der Hand durch ihr Fell gefahren, hatte ihren Herzschlag gefühlt. Und er hatte begonnen, sie abzurichten. Zuerst nur die grundlegendsten Dinge. Dann begann er, die Pfeife zu verwenden und schwor die beiden Tiere richtiggehend darauf ein. Der Pfeife gehorchten sie blind. Ein einzigartiges Instrument der Macht: Selbst wenn ihr Ton für menschliche
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