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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Abermann
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machen, er schwang nach links, kam aber nicht weit, plötzlich war er zurück bei seinen Wurzeln, riss sich von Neuem los, brach seine Flucht wieder ab, schwang an mir vorbei wie ein riesiges Pendel, die Welt drehte darunter durch. Ich riss den Blick los, doch als ich mich hastig nach hinten über die Mauer lehnte, wiederholte sich auch hier das Spiel, diesmal mit einem leuchtend blauen Fahrrad. Es flog durch die Luft, landete wieder, schien wieder loszufliegen und krachte schließlich erneut auf den Boden, gemeinsam mit einem Schwall Kotze. Prustend atmete ich aus. Erst jetzt kalibrierte sich meine Wahrnehmung wieder, fand ich meine Mitte. Das Fahrrad blieb stehen.
    Im Nachhinein behielt ich ein Bild von diesem Abend, als sähe ich mich selbst durch eine Überwachungskamera. Auf dem Film kippt mein Körper von einer Ecke in die andere wie ein angeschlagener Boxer, ein schlaffer Haufen Mensch, dem man alle Knochen aus dem Körper geprügelt hat. Ich wurde durch den Abend geschossen wie eine Kugel in einem Flipper.
    Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: In dem Moment, als ich mich neben dem Fahrrad übergab, war ich noch nicht einmal auf dem Höhepunkt des Schauspiels angelangt. In Wahrheit war noch nicht einmal die Münze in den Flipper geworfen. Ich fühlte mich zwar am Boden. Doch am Boden der Tatsachen war ich noch nicht.
    Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Eine Stimme fragte, ob alles in Ordnung sei. Instinktiv schlug ich die Hand weg. Es war Hannes.
    Er stieß einen überraschten Pfiff aus, schließlich wäre er nur hier, um mir zu helfen. Er setzte sich neben mich, kramte in seinen Taschen, sah mich dann wieder an und fragte mich nach Zigaretten. Ich sah ihn aus verquollenen Augen an und konnte nicht ganz glauben, dass er die Frage in dieser Situation wirklich ernst gemeint hatte. Als ich nicht reagierte, klopfte er meine Westentasche ab, fand Zigaretten und zündete sich eine an. Es kam mir vor, als würde er gerade einem Toten die Kleider stehlen. Doch es war viel zu anstrengend, sich zu wehren. Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter, begrüßte dann irgendjemanden irgendwo in der Ferne. Ich konnte nicht erkennen, wer es war. Die Person wandte sich ab und jemand anderem zu.
    Hannes meinte, ich solle nicht schlappmachen, es sei das Jetzt, das zähle, du musst den Rausch genießen, mein Freund! Keine Gegenwehr! Das sei das Entscheidende: Die Gegenwart genießen, im Hier und Heute leben, ohne an das Morgen zu denken. Die Zukunft sei kein Freund, sondern ein hinterhältiger Betrüger! Vollkommen unberechenbar. (Das galt auch für den Baum, der in diesem Moment wieder durch die Kulisse trieb.) Ich drehte mich ruckartig um und musste mich schon wieder übergeben. Hannes klopfte mir lachend auf die Schulter, ja, sagte er, ich solle es genießen. Er holte einen Flachmann aus der Tasche. Er setzte mir die Flasche an die Lippen. Ich trank gehorsam, der Schnaps brannte nach unten. Schließlich prostete mir auch Hannes zu – unter dem Klatschen und Jubeln des Abends. (Manchmal war es, als würde jede von Hannes’ Bewegungen vom Beifall einer unsichtbaren Menge begleitet. Manchmal schien es, als hätte er die Unterstützung der ganzen Welt.)
    Noch ein Schluck. Ich war wieder da. Das Drehen stoppte, die Übelkeit verschwand. Hannes griff mir unter die Arme. Genießen, hallte es in meinem Kopf wider. Immer wieder: Hannes’ unglaubliche Fähigkeit, alle Fragen über die Zukunft unwichtig zu machen. Hannes’ Hand, die uns mitschliff, wieder hinein in die Menge, hinein ins fahle Licht. Also noch ein Schluck, also Party, zum Teufel!, lachende Gesichter flogen vorbei, gackergacker!, und jetzt aber: Wo war das Mädchen? Ein Kribbeln auf meiner Kopfhaut: die Rückkehr der Ameisen! Ich legte die Hand auf meine Haut, als versuchte ich einen aufgeworfenen Stoff glattzustreichen.
    Noch ein Schluck, wieder zurück in der Menge, Hannes lachte, Leo lachte, noch einer lachte mit, manchmal lachte er auch nicht. Ich modellierte meine Lippen aus Knetmasse, es fühlte sich schwerfällig an und zäh. Ich hätte in einen Spiegel sehen müssen, um überzeugt zu sein, dass ich es war, der lachte.
    Jemand meinte, dass Hannes recht habe, es sei ja vollkommen nebensächlich, was morgen sein werde, und es klang, als wäre es meine eigene Stimme, die den Satz aussprach. War es wirklich ich, der gesprochen hatte? Gesprächsfetzen überlagerten sich wie verworrene Fäden. Ein Wollfadenspiel. Ein Kennenlernspiel! Zugeworfene

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