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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Abermann
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Osterfest. Er füllte die Gläser mit Orangensaft auf, ich rührte um und griff nach den Gläsern, doch Hannes reckte den Kopf und stieß ein abgehacktes Brummen aus. Etwas fehle noch, sagte er. Dann griff er in seine Westentasche und holte drei gefaltete Briefchen heraus. Hannes sah mich an und legte nur einen Zeigefinger auf die schmunzelnden Lippen, bevor er daran ging, drei Pulver-Portionen in die Gläser zu mischen. In den Cocktails schwoll das Blau an, als bliese man sachte in eine Glut. Ich behielt die Drinks im Auge. Es war unmöglich, sie auseinanderzuhalten.
    Man müsse sich auch einmal etwas gönnen, meinte Hannes, während er die Gläser dekorierte. „Zitronen für die Damen, Orangen für die Herren“, raunte er mir eindringlich zu. Ich nickte wie ein Kellner, der gerade eine Bestellung entgegengenommen hatte. In meinem Kopf rauschte es. Ich spürte die Gläser nicht, als ich danach griff. Ich lauschte der Melodie, die Hannes pfiff, und gehorchte. Gemeinsam trugen wir die Gläser ins Wohnzimmer.
    Verstand ich immer noch nicht, was vor sich ging? Hätte ich nicht in diesem Moment die Reißleine ziehen können? Etwas zog an meinen Eingeweiden, wahrscheinlich der letzte Rest Vernunft. Mit einem dünnen Stimmchen forderte mein Gewissen, dass ich verhinderte, was geschehen würde. Ich sah in das Blau der Cocktails und spürte das Eis unter meinen Füßen brechen. Die Spalte nahm mich auf, und ich fühlte mich fallen, fallen. Das Loch kannte keinen Boden. Endlich hatte ich Gewissheit: Es würde immer weiter abwärts gehen. Der Tiefpunkt war noch lange nicht erreicht. Ich steuerte darauf zu wie eine Drohne. Doch aus dem Nichts kam plötzlich ein entschlossener Griff. Hannes riss mich mit. So blieb ich weiter auf Kurs.
    Meine Blicke flogen nervös durch den Raum. Déjàvu. Ich hatte eine ähnliche Szene schon miterlebt. Doch wo? Und wann? Am Vorabend? Mein Gehirn versuchte ratternd die Bruchstücke zusammenzusetzen. Die Decke über meiner Erinnerung wog immer schwerer. Da war doch etwas gewesen, ich musste mich erinnern. Ich fischte in einem dicken Nebel. Die fehlende Erinnerung fühlte sich an wie eine tiefe Wunde. Und woher kannte ich das Mädchen? Ich reichte ihm ein Glas mit Zitrone. Es lächelte freundlich und bedankte sich. Schon wieder ein Déjà-vu.
    Hannes wartete ab, bis jeder ein Glas hatte, prostete allen zu und gab mit einem gespielten Lachen einen Toast auf Gottes Tod aus. Alle erwiderten den Toast, alle lachten ein wenig gezwungen mit. Der Witz habe langsam einen Bart, murmelte Bélisa halblaut in ihr Glas hinein. Hannes beobachtete, wie die Mädchen tranken. Stille lag im Raum, wir nippten immer wieder an den Gläsern. Irgendwann lobte Leo den Geschmack der Cocktails. Als alle ausgetrunken hatten, servierte Hannes ab und ging noch einmal in die Küche.
    Ich wandte mich dem Mädchen neben mir zu, fragte, wie es heiße.
    „Maria.“
    Der Name hallte in mir wider. Und doch war es, als hörte ich ihn zum ersten Mal.
    „Thomas“, gab ich zurück, und dass wir uns doch schon einmal getroffen hätten.
    Maria lachte nervös. Mittlerweile mache sie sich schon beinahe Sorgen um ihr Gedächtnis. Sie sei überrascht gewesen, als Hannes sie eingeladen hatte. Auch an ihn habe sie sich gar nicht mehr erinnert, aber anscheinend habe sie ihm auf einer Party ihre Nummer gegeben.
    Hannes kam wieder aus der Küche. Wieder waren die Gläser dekoriert. Zitronen für die Damen, Orangen für die Herren. Dabei zwinkerte er mit einem Auge. Hätte jemand die Szene gefilmt, wären kleine Elemente in Großaufnahmen zu sehen gewesen. Die Cocktails, wie sie einen kleinen Tanz aufführten, durch den Raum flogen und in offenen Händen landeten. Ein kleines Ballett winziger Rührungen. Wir führten eine Choreografie vor, wir griffen ineinander wie Artisten. Wir waren eine Zirkusnummer. Hannes, der am Trapez ins Zimmer schwang, die Cocktails durch die Lüfte schweben ließ, meine Hand, die das Glas fing wie die Keule eines Jongleurs. Dann dieser Salto mortale, dieser Taschenspielertrick, den man nicht sehen sollte, sondern fühlen. Dieses Zwinkern. Dieses Zwinkern, das sich anfühlte wie ein Witz, den man sofort nach dem ersten Hören wieder vergaß.
    Hannes stellte das Tablett ab und griff nach der Fernbedienung. Er zielte auf die Decke, als würde er ein Flugzeug abschießen. Die Fernbedienung dimmte das Licht.

    Ich versuche mir vorzustellen, wie Anna, Bélisa und Maria diesen Moment erlebt haben müssen. Wie es war, die

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