Hundsköpfe - Roman
Arbeitsgängen in der Werkstatt vertraut war.
»Ib wird das Praktische schon erledigen«, sagte Hans Carlo beruhigend, »jetzt vergessen wir mal das ganze Handwerk und konzentrieren uns auf die Buchführung und die Akten.«
Daraufhin begann er, seine Tochter in die Kunst der Bilanzerstellung einzuführen, fand jedoch bald heraus, daß sie auch keine besonders großen buchhalterischen Talente hatte. »Ich versteh’ es noch immer nicht«, jammerte Leila, wenn Hans Carlo die Zahlen in Soll und Haben vertauschte, dabei redete sie so viel Unfug, daß er graue Haare bekam. »Wenn ich sterbe«, erklärte er daher in einem Anfall plötzlicher Einsicht, »suchst du dir jemanden, der die Buchführung für dich übernimmt. Du mußt nur der Chef sein und dafür sorgen, daß der Laden läuft. Vergiß die ganze Scheißbuchführung!«
So begann Leila zu lernen, der Chef zu sein. Das war eigentlich ziemlich einfach, denn sie hatte keinen Finger zu rühren – und wenn sie dabei Hilfe benötigte, konnte sie einfach Ib fragen. Ib war allerdings auch ungewöhnlich hilfsbereit, denn während Leila noch immer ein fettes Schwein erblickte, sobald sie in den Spiegel guckte, sah Ib etwas ganz anderes in der Tochter seines Chefs. Und so dauerte es nicht lange, bis sie sich zum ersten Mal in einem Schneegestöber von Sägespänen auf der Hobelbank im Hinterraum liebten, und Leila, die sich immer mit Gedanken über ihr erstes Mal gequält hatte, verstand hinterher nicht, daß es so einfach gewesen war. Pfeifend lief sie durch die Straßen der Stadt, und als sie am nächsten Morgen erwachte, warf sie einen vorsichtigen Blick in den Spiegel und erblickte zu ihrer großen Überraschung eine richtige Frau. Der Bann war gebrochen. Die böse Stiefmutter, die Hans Carlos Tochter einst in ein fettes Schwein verwandelt hatte, verlor ihre magischen Kräfte, und nun liebten sich Leila und Ib regelmäßig in der Werkstatt, wenn Hans Carlo aufgrund zunehmender Kopfschmerzen gezwungen war, zeitig nach Hause zu gehen.
Daß mit ihrem Vater etwas ganz und gar nicht mehr stimmte, begriff Leila zum ersten Mal an dem Nachmittag, als er in die Werkstatt kam und sagte: »Harry ist im Schullandheim. Wir müssen sehen, daß wir ihn heimholen, bevor die Engel kommen.«
Leila wußte, daß Harrys Eintritt in den Kaufmannsstand ihren Vater noch immer quälte, aber wieso im Schullandheim? Und was war das für eine Geschichte mit den Engeln?
»Welche Engel?« fragte Hans Carlo hinterher. »Ich habe nie etwas von Engeln gesagt.«
Aber mein Großvater mütterlicherseits begann tatsächlich von Engeln zu faseln. In seltsamen Visionen sah er sie näher kommen, rosenlippige Engel, behaarte Satyrn und natürlich den Engel über ihnen allen – die zarte Elisabeth, deren Mund Sätze wie »Das Leben ist schön« formte, und die wie so oft mit wild flatterndem blondem Haar auf einem Motorrad durch den Garten Eden raste.
»Dein Vater ist ein alter Spinner«, beschwerte sich Frau Mutter bei Leila, »wahrscheinlich fängt er bald auch noch an, an Heinzelmännchen zu glauben.«
Die Situation wurde nicht besser, als Hans Carlo eines Tages einen dicken Mann mit einem Stock auf der anderen Seite des großen Schaufensters sah. »Der Norweger ist gekommen«, sagte er am Abend am Eßtisch, »jetzt fahre ich mit Elisabeth nach Berlin.«
Die letzte Äußerung war der Tropfen, der bei Frau Mutter das Faß zum Überlaufen brachte. Sie befahl Hans Carlo, auf der Stelle zum Arzt zu gehen, und wenige Tage später wurde festgestellt, daß seine zunehmenden Kopfschmerzen, seine abgehackte Redeweise und seine merkwürdigen Visionen über Engel und mystische Norweger weder an schleichendem Schwachsinn oder Senilität lagen, sondern an einem Tumor von der Größe einer Mandarine im Kleinhirn. Operation unmöglich, kann man ganz einfach nicht machen , hörte Leila den Arzt wieder und wieder sagen, und während Elisabeth mehrere Jahre zum Sterben gebraucht hatte, weil sie sich so ans Leben klammerte, dauerte es bei Hans Carlo nicht mehr als drei Wochen. Als er sein Todesurteil empfing, hatte er bereits einen Blick in die jenseitige Welt geworfen, und es dauerte nicht lange, bis sich sein Körper unter dem Druck des Tumors auf das zentrale Nervensystem aufbäumte und von spastischen Lähmungen heimgesucht wurde. In dieser Zeit – er lag in einem Krankenhausbett mit Schläuchen am ganzen Körper – vollzogen sich unerwartete Transformationen in Hans Carlos Gehirngewebe, und auf einmal
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