Hundsköpfe - Roman
und in den großen Mahagonischrank in der hintersten Ecke des Sprechzimmers verschwand ein eiliger Schatten gerade in dem Moment, in dem der Direktor die Tür aufriß und seinen ehemaligen Angestellten hineinführte.
»Herr Gunnarsson«, sagte er in respekteinflößendem Ton, »ich habe hier einen akuten Patienten.«
Askild starrte Thor, den Arzt, überrascht an, riß den Verband ab und zeigte mit seinem abgeschnittenen Finger auf ihn, so daß ein dünner Blutstrahl auf das noch nicht zugeknöpfte Hemd des Arztes spritzte. Eine kurze Sekunde lang glaubte der Arzt, er würde von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen, und es wäre sein eigenes Blut, das den Flecken auf seinem Hemd hinterließ, aber das war natürlich vollkommener Blödsinn. In seinem verwirrten Zustand erinnerte er sich an damals, als er diesen Mann als einen dünnen Schatten wahrgenommen hatte, der plötzlich im Haus auf Skivebakken stand und ihn ungläubig anstarrte …
»So machen Sie doch etwas, Mann!« entfuhr es dem Direktor, und während Thor sich diese Gedanken aus dem Kopf schlug, sein blutiges Hemd zuknöpfte und sich den Finger des Patienten besah, lehnte Segelohr sich gegen den großen Mahagonischrank. Das hätte er nicht tun sollen. Man hörte ein lautes Klicken, das Schloß ging auf, und aus der Dunkelheit des Schrankes taumelte Bjørk – lediglich mit einem hochhackigen Schuh und einem Strumpfhalter bekleidet. Mit ihren Händen umklammerte sie ihr Kleid, das sie erschrocken vor die Brust hielt, und dieser wahnsinnige Anblick, der überhaupt nicht hierhergehörte, verschlug allen die Sprache. Askild ließ vor Schreck die Papiertüte fallen. Segelohr stieß einen kleinen Schrei aus, der Direktor sperrte Mund und Nase auf, und der verlegene Arzt zog instinktiv den Kopf ein, als hätte er Angst, daß jemand ihn schlagen würde. Doch kaum hatte sich einen Augenblick später der Schreck gelegt, fing Askild an zu brüllen: »Du stehst auf meinem Finger! Bist du verrückt? Mach, daß du da wegkommst!«
Hatte es zu gewissen Zeiten noch die Chance gegeben, Askilds Fingerstummel wieder an seinen Zeigefinger anzunähen, war nunmehr jegliche Hoffnung vergebens. Als der Direktor sich bückte, um die Papiertüte aufzuheben, wurde ein ziemlich plattgedrückter Finger aus der Tüte gefischt. Bjørk war mit dem Absatz ihres Schuhs, der einen Durchmesser von gerade mal einem Zentimeter hatte, direkt darauf getreten, als sie versuchte, das Gleichgewicht wiederzugewinnen. Welch ein Ausdruck trat in Bjørks Gesicht, als sie begriff, daß sie auf dem Finger ihres Ehemannes stand …
Es muß der gleiche Ausdruck gewesen sein, den ich viele Jahre später in der Küche am Tunøvej in Odense gesehen habe. Großmutter hatte nach dem Mittagessen abgewaschen, und als sie hinterher den Schrank unter dem Spülbecken öffnete, der nicht mehr von winzig kleinen Ungeheuern bevölkert wurde, schoß eine überraschte Maus heraus und rannte verwirrt zwischen den Beinen meiner Großmutter herum, die erschrocken in die Luft hüpfte. Als sie den Boden wieder berührte, war ein merkwürdiges Geräusch zu hören, als würde etwas zerquetscht, und ganz richtig: Unter einem der Hausschuhe Großmutters klebte eine zerquetschte Maus. »Typisch«, zischte Askild mit einer unerwarteten Irritation in der Stimme. Eine zerquetschte Maus unter dem Schuh anderer Leute war eigentlich etwas, das meinen Großvater unter normalen Umständen zum Lachen gebracht hätte, nur wußte ich zum damaligen Zeitpunkt noch nichts über Großvaters Finger. Ich glaube, Askild hatte eine gewisse sadistische Freude daran, Großmutter mit der Möglichkeit zu terrorisieren, sie vor der ganzen Familie bloßzustellen. Bevor Knut viele Jahre später aus Jamaika nach Hause kam, hatte er es nicht getan.
Doch zurück nach Bergen: Der Stummel wurde eingehend betrachtet. Bjørk kämpfte verbissen mit ihrem Kleid, allerdings mochte niemand es kommentieren. Auch Askild nicht, der sich verblüffend ruhig verhielt, kein einziges Wort sagte und nur auf die Tüte mit dem zerquetschten Finger starrte. Thor, der Arzt, richtete sich wieder auf, und als er begriffen hatte, daß der verschmähte Ehemann ihm nicht ans Leder wollte, schaute er den Direktor verärgert an und sagte: »Wieso bringen Sie ihn eigentlich zu mir? Das ist eine Sache fürs Krankenhaus!«
Auch Segelohr sagte keinen Ton, nichts ließ sich in seinen Augen lesen, nicht einen Blick warf er auf seine Mutter. Hingegen veranstaltete er ein ziemliches
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