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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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sagte er, einen Schluck Kaffee nehmend, daß man den Großen der Vergangenheit Schrullen und Absonderlichkeiten zubilligt … Beethoven, wie der die Menschen behandelt hat! Geschrien und getobt! Und Goethe – mit eisigem Schweigen reagiert, wenn ihm was mißfiel.

    «Oder nimm mal Bach, der hat den Leuten die Perücke nachgeworfen, oder Fontane, wochenlang im Bett gelegen und geweint, oder Wagner, das Geld aus dem Fenster geschmissen» – demgegenüber sei er doch hypernormal! … Allen Künstlern billige man Allüren zu, aber ausgerechnet von ihm, der weiß Gott viel für die Menschheit geleistet hat und Ungeheuerliches aus seiner Vergangenheit täglich verdauen muß, ausgerechnet er soll immer geradeaus marschieren, und je normaler er ist, immer noch normaler sein. Ob ihm das mal einer erklären könne?

    «Als Schitti, mein Sohn, den kennst du doch, als der mir die Laube in Brand gesetzt hat … Was meinst du wohl, was ich gemacht habe? Gelacht hab ich, weiter nichts. Und mit Klößchen die Sache? Die Meißner Vase? Na, gelacht! Was denn sonst?»

    Aber, wenn er ein einziges Mal auch nur eine Unmutsfalte von sich gebe, dann, oh, dann! Dann heiße es: Er ist launisch. Die Sache mit Erika: stehend sei er durchs Ziel gerauscht!

    Und dann kamen Uralt-Geschichten, wann, wo und wie er mal beleidigt worden war, oder gekränkt oder verletzt. Als Kind, sein Vater schon: die Lateinpräparation durchgestrichen und «noch mal» gesagt. Oder seine Mutter? Ihn aufs Land geschickt, vier volle Wochen, er solle sich mal gut erholen. Die ganzen Ferien im Eimer und von Flöhen aufgefressen… «Oder nimm die berühmten sechziger Jahre. Niedergebrüllt hat man mich, weil ich mich mit der Vergangenheit beschäftigte, niedergeschrien und an der Krawatte gezerrt …» Holderbusch wurde erwähnt, der sich als Zuhälter bezeichnete, ohne daß ihm das was schadete – mit der Faust habe der ihm gedroht! –, und Lucinde Pechel mit ihren Weihnachtsgedichten?

    Höher die Aktien nie steigen,
als zu der Weihnachtszeit …

    Natürlich habe er auch Glück gehabt, er wolle ja nicht undankbar sein, viel Glück in seinem Leben. Daß ihn Fleiß und Fortune hoch hinaufgetragen hätten, höher als zu erwarten gewesen war. Acht Bücher geschrieben und das neunte Buch, seine Neunte, hähähä, schon im Kommen… Das schöne Haus … Oder wenn er an den Moment seiner Gefangennahme denke …

    Petra, die ihm schon längst den Rücken zugekehrt hatte und nach draußen guckte, fragte gradewegs und absolut normal dazwischen: Ob er noch was braucht. Sie möchte jetzt wieder zu den anderen runter, die fragten sonst, wo sie so lange abbleibt.

    Das hatte Alexander nicht erwartet. Durch sein Gehirn schossen Rettungsaktionen, sie zu veranlassen, dazubleiben. Ohne Dings kein Bums – das Lexikon der Jugendszene konnte ihm jetzt auch nicht helfen. Schon war sie draußen, und ihm blieb es, die Fensternische zu betrachten, wo das blutvolle Kind gestanden hatte.

    Wie dumm, so schnell das Weite zu suchen. Vielleicht hätte er ihr noch frühe Manuskripte gezeigt oder das verschnürte Päckchen in seinem Barock-Sekretär, das niemanden etwas anging. Das hatte sie sich nun verscherzt.

    Andererseits auch gut. Wenn dieses Mädchen ihm hier oben in seiner Fluchtburg nur ein bißchen entgegengekommen wäre – wer weiß, was alles hätte passieren können. Eckart und Luise hätten todsicher davon erfahren. Die hätten das gerochen!

    Als wieder Ruhe eingetreten war, stand er eine Weile unschlüssig in seinem Zimmer, dann stieg er hinauf zu Marianne, wobei er auf den Treppenstufen die roten Anti-Knarr-Markierungen benutzte, um sich nur ja nicht zu verraten, und spähte von dort aus in den verwüsteten Garten.

    Die Mädchen zeigten dem Jüngling gerade auf alberne Weise, wie man Disteln durch Drehen des Hackens austritt – es schmeichelt einem, wenn man nachgeäfft wird, aber es darf nicht zu doll sein –, und dann stürmten sie auf die Wiese und brachten ihm Judogriffe bei. Sie überknäuelten den Jungen und ließen sich jagen. Auch zu Hebeübungen kam es. Dazu gab es überlaute Schallplattenmusik, auf Tempo 78 gestellt, was sich wie ein Song von Gartenzwergen anhörte. Alle fanden das wahnsinnig irre, voll ätzend und unwahrscheinlich steil.

    Sowtschick stand in seinen Verführungshosen hinter der Gardine. Er stellte Mariannes Opernglas scharf und besah sich die Quadrille zu sechst, die sich um den Jüngling herum abspielte, die Pferdemädchen, die Schwestern und

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