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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ruhig Blut das Ihre taten. Sowtschick erinnerte sich noch gut an diesen damals noch jungen Mann, der sich extra Löcher in die Jeans gerissen hatte, um den von ihm verherrlichten Arbeitern auch äußerlich recht nahezukommen. Nun lebte er auf einem Chalet in Südfrankreich mit Pferden und Hunden und verkündete, daß nur das Ich zählt, sonst nichts. Im übrigen könne er nur unter Franzosen leben, alles Deutsche sei ihm verhaßt. Und das wurde ihm hoch angerechnet.

    Zur musikalischen Umrahmung der Talk-Show hatte man drei querschnittsgelähmte Jünglinge aufgetrieben, die auf Mandolinen selbstgedichtete Optimuslieder darboten.

    Plötzlich ging das Licht aus, klack! Das Fernsehbild entschwand, im ganzen Haus war es stockfinster. Sowtschick blieb erst einmal, wo er war, hier saß er gut und trocken. Stille und Dunkelheit taten ihm wohl. An die Nacht-Silvesters mußte er denken, die nun, unter der Führung des Kecksten, die Kellertreppe hinaufgeklettert kämen.

    Nachdem er eine Weile gesessen hatte, ohne sich zu rühren, stellte er fest, daß es keinesfalls stockfinster war. Von den Fenstern her schimmerte es mattgrau. Einzelne Gegenstände, der Tisch, Sessel und ein Spiegel, waren deutlich auszumachen. Sowtschick erhob sich vorsichtig. Bloß jetzt nichts umstoßen! Er setzte sich ans Klavier. Mal sehen, ob er den Prokofjew ohne Noten spielen könnte: Es war ihm schon aufgefallen, daß er beim Spielen zwar die Noten stehen hatte, daß er aber gar nicht richtig hinsah. Und so war es denn auch, Rubinstein und die Klavierlehrerin kamen aus dem Staunen nicht heraus, daß er es vollbrachte. Er scheiterte erst, als er merkte: Gleich bin ich durch.

    Nun mußte aber doch wohl Licht gemacht werden. Sowtschick ging nach vorn und entnahm der Handschuhkommode eine Taschenlampe. Die Batterie «ging noch», was er laut als ein Wunder bezeichnete. Wo der Sicherungskasten saß, wußte er, er öffnete ihn und leuchtete die mechanischen Sicherungen ab. Alles in Ordnung. Nun, das war sonderbar. Dann handelte es sich also um eine größere Sache, eine Art Blackout. Sowtschick ging vor die Tür, und da sah er, daß das ganze Dorf im Finstern lag. Folglich handelte es sich um einen Defekt des Überlandwerks. Vermutlich brauchte dort nur ein großer Hebel umgelegt zu werden, dann war alles wieder gut. Dies geschah jedoch nicht, und Sowtschick setzte sich, da es offensichtlich länger dauern würde, auf die Bank vorm Haus, die er zu seinem sechzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Den Hunden, die sich neben ihn setzten, legte er die Hand auf den Kopf.

    Es liegt Segen über dem Land, dachte er und atmete die Abendluft tief ein. Mal eine Handvoll Erde aufnehmen und daran schnubbern? Lieber nicht! Mit dem würzigen Erdgeruch würde man auch Pestizide einatmen, die dann die Nasenschleimhaut angriffen, wie bei einem Kokainschnupfer, oder die Lunge zerfräßen.

    Wahrscheinlich gibt es in meinem Körper schon Ablagerungen, dachte Sowtschick, und er stellte sich vor, daß beispielsweise in den Poren seines Fersenbeines sich Quecksilberkügelchen eingenistet hätten. Aus dem urwüchsigen Afrika sich Erde schicken lassen, um daran zu schnubbern. Doch weh! Da unten hatten die Entwicklungshelfer ja schon für Ordnung gesorgt.

    Es war nicht so, daß er sich in dieser stillen Stunde den Weltuntergang vorgestellt hätte, die Rückkehr jener Zustände, die in der Bibel als «wüst und leer» beschrieben sind. Er hatte aber doch das Bild versteppter Kontinente vor Augen, zusammenstürzende Hochhäuser, und daß Ratten über die Trümmer huschten. Und er sah sich selbst als letzten Menschen altersschwarze Ikonen aus einem halbzerstörten Laden herausholen und in seine Höhle tragen.

    Es ist ein Schnitter, heißt der Tod …

    Er dachte auch an die Jugend, die eben noch in der Disko getanzt hatte, und an die heulenden Lautsprecherbatterien. Der Tanz der Hetären in Herculaneum, bevor Feuer vom Himmel fällt. Strawinsky, die Psalmensymphonie.

    Während er sich den näherliegenden Betrachtungen hingab, was das für ein Leben sein würde, ohne Strom und womöglich ohne Wasser, daß es vielleicht gut sei, Reservekanister mit frischem Wasser zu füllen, solange es noch Zeit ist, und daß die «Aktion Eichhörnchen» eigentlich gar nicht so unsinnig gewesen war, da ging das Licht schon wieder an, klick! Der Kühlschrank fing an zu bollern, das Fernsehbild kam wieder herangeschwebt, und die Nacht-Silvesters verschwanden einander überpurzelnd im

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