Hundstage
Text dahin … Die Pferdemädchen! Ein sich bäumendes Pferd kam ihm in den Sinn, unter einer kleinen Reiterin, und er erinnerte sich daran, wie sein Vater ihn mal auf die Schultern genommen hatte: eine Militärkapelle war vorübermarschiert, der Schellenbaum, die große Tuba. Der Mann an der großen Trommel hatte einen blutigen Daumen gehabt.
Dann dachte er an eine weiße Cordhose. Die Scherenschleiferin? Nie würde er diese Frau wiedersehen. Wie sonderbar, daß er sie nicht vergessen konnte. Der rotierende Schleifstein und das große Messer, das sie auf den Stein preßte, den kleinen Finger abgespreizt, das lag glühend unter dem Humus seiner Seele.
Out! Alles out, dachte Sowtschick.
Witzig war es zu denken, daß da oben über den Astknorrenbrettern ein Menschenkörper atmete, der saubere Luft einsog und verbrauchte ausstieß und sich von kruden, sich jagenden Bildern im Gehirn getrieben wälzte! Merkwürdig, daß er, Sowtschick, diesem Körper da oben nicht näher käme, selbst wenn er sich in seinem Zimmer nach Art schwebender Jungfrauen bis unter die Decke heben würde.
Sowtschick taxierte die Stelle ab, wo denn nun über ihm die Füße des Mädchens lägen und wo der Kopf zu suchen sei. Adelheid, genannt Addi, die Kanalschwimmerin. In München hatte er Jungschweine in einem Schaufenster hängen sehen, enthäutete … Er sah sich über den nackten Mädchenkörper gebeugt, das enthäutete Gesäß vor sich, wie in einem Anatomiemodell, die säuberlich freigelegten Rundungen, blutig, beefsteakartig.
Um die Nacht ganz zu der seinen zu machen, schob er eine Musikkassette in den Recorder, das Doppelkonzert von Bach, von den beiden Oistrachs gespielt, fünf Mark achtzig, auf dem Grabbeltisch bei Schleiter & Greif in der Mönckebergstraße.
«Dir wird der Zahn noch triefen», sagte er, während die Musik bereits zu exerzieren begann.
Die Oistrachs hatten es ihm angetan, besonders der ältere. «Diese zur Einsamkeit entschlossene Tapferkeit», sagte Sowtschick. Seitdem er erfahren hatte, daß dieser Mann in einem Moskauer Hochhaus gelebt hatte, wo er natürlich nur an bestimmten Tageszeiten hatte üben können, von unten durch Klopfen gestört, ging er für ihn durchs Feuer. Und wenn jene Oistrach-Stellen kamen, Stellen mit «Schmelz», wie oberflächliche Menschen sagten, diese unfaßbar zarten Anstriche oder dies zögernd-liebliche Verweilen, das, wie Sowtschick es immer wieder gern ausdrückte, von einer zur Einsamkeit entschlossenen Tapferkeit zeugte, dann nickte es in seiner Brust, was zur Folge hatte, daß ihm kurz darauf Tränen in die Augen stiegen. Er dachte dann: Der arme, arme Mann, sah ihn im unwirtlichen Moskau in einer Käuferschlange stehen, barsch zurechtgewiesen von brutalen Verkäuferinnen, ein Viertelpfund Speck nach Hause tragen, den er sich in seiner Kochecke hinter einem geblümten Plastikvorhang ausbriet.
Den aus dem Recorder kommenden, tapfer dahinschmelzenden Tönen dieser Rede und Gegenrede würde man noch in hundert Jahren lauschen können, so wie man seine Bücher noch in hundert Jahren würde lesen können, wenn man’s wollte. Vielleicht würde in hundert Jahren ein straffporiges Mädchen eines seiner Bücher lesen und denken: Sowtschick … was für ein tapferer, einsamer Mensch!
Eben begann der langsame Satz des Violinkonzerts, Sowtschick hatte die Eulenburgsche Partitur vor die Augen genommen, um die Baßpartie mitzusingen, wie er es gerne tat, weil er sich dann einbezogen sah in das Gespräch der beiden Oistrachs, ja in den Kreis der Musikanten, deren beifällige Blicke für sein Singen er über die Geigenbäuche hinweg zu spüren meinte: Auch Rubinstein nickte ihm zu, von fern, ein Herz und eine Seele. In Sowtschick wollte schon die Erschütterung aufrucken, da war in seinem Haus ein Klagelaut zu vernehmen, ein langgezogener, äolsharfenartiger Klagelaut. Solche Art Laute waren zu hören, wenn Utze, der Nachbarhund, sich nach den Sowtschick-Hunden sehnte, und solche Herzensschreie hatte Marianne hervorgebracht, als der Kater Maxi, eine zugeschnürte Schlinge um den Leib, vor der Haustür verendete.
Die Laute kamen aus Susis Zimmer. Im Recorder dahinschmelzende Töne, hervorgebracht von einem zur Einsamkeit tapfer entschlossenen Künstler; und irgendwo im Haus Urgeräusche aus den Tiefen einer offenbar leidenden Seele kommend. Wer seinen Kummer für sich behalten will, weint leise. Laute Töne sind Signal – das verstand Sowtschick. Hier wurde «geheult», damit es
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