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Hundstage

Hundstage

Titel: Hundstage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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gehört würde.

    Sowtschick zog seinen weinroten Schlafrock an und stieg den Klagelauten nach. Gabriele war es, also «Gabü», die da so laut weinte.

    Sowtschick stand eine Weile vor der Tür, dann klopfte er und trat ein. Das Zimmer war vom Mondlicht matt erhellt. Im Bett, das war zu erkennen, lag das Löwenheckerchen bäuchlings unter der dünnen Bettdecke, das blonde Haar herunterfallend, und es schluchzte unvermindert.

    Einmal im Leben so weinen können, dachte Sowtschick und trat näher und setzte sich auf den Bettrand, wodurch sich das klagende Schluchzen womöglich noch verstärkte. Dies war kein Aufzucken eines unter Verschluß gehaltenen seelischen Konflikts, hier hatte sich der Schmerz bereits Bahn gebrochen und schoß schäumend zu Tal.

    Sowtschick war ratlos. Erst mal Ordnung schaffen, dachte er und packte die Masse des herunterhängenden blonden Haares und legte es ordnungsgemäß auf die Bettdecke. Auf dem Fußboden war der Seesack zu erkennen, aus dem Wäsche quoll. Auch hier hätte Ordnung geschaffen werden können, was sich aber von selbst verbot.

    Sowtschick lauschte der Musik, die gottlob laut genug aus seinem Zimmer drang. Der langsame Satz näherte sich dem Ende, und Sowtschick dachte an Erziehungsliteratur, Worte wie «Verständnis» und «immer für dich dasein» glitten durch sein Gehirn, und er klopfte dem zuckenden Mädchen leicht auf die übrigens schwitzige Schulter, und er sagte irgendwie: «Wird schon werden» oder so was.

    War es der unglücklich ausgehende Liebesfilm, der sie so erschütterte? Oder gar die zunehmend ruppige Art, mit der er ihren dichterischen Versuchen begegnete? Den kubischen Gräsern auf der silbernen Wiese des Grauens? Nein. Das Mädchen weinte ganz offensichtlich um Ralli, den verlorenen Liebsten, der ohne sie nach Frankreich getrampt war, der dort Pommes frites und Baguette aß und in Taizé christliche Gemeinschaft mit anderen Mädchen haben würde. Auf dem Nachtschrank stand sein Foto, ein schwarzhaariger Typ mit gleichgültigen Augen. Neben dem Foto lag der Stenoblock mit neuesten Gedichten, daneben ein Stoß Papiertaschentücher als Vorrat für die Tränen.

    Die Minuten tickten dahin, und das überlaute Schluchzen dauerte an, es wurde Sowtschick, ehrlich gesagt, ein wenig langweilig. Daß Adelheid sich nicht rührte, die mußte das doch auch hören? Er sah sich um im Zimmer, an der Tür das «Endlich raus!» seiner Tochter und an der Heizung die nie benutzte Marionette. Auf dem Fußboden der aufgeplatzte Seesack mit «Dessous».

    Sowtschick entschloß sich zu einer Geste, er legte sich vorsichtig, vorsichtig neben das lebendige Mädchen – es mochte sein, wie es wolle –, und er freute sich darüber, daß sie sich nicht abwandte von ihm oder womöglich auffuhr, ihn einen Geili oder gar einen Pimmelträger nannte, sondern im Gegenteil ein wenig zur Seite rückte und ziemlich sofort ruhiger wurde, aufschmatzend wie ein milchsattes Kind.

    Ich bin nicht nur ein Mensch, der Bücher schreibt, die von der Welt angenommen werden, dachte Sowtschick, ich kann außerdem noch Klavier spielen und habe ein gewisses Geschick, mit jungen Menschen umzugehen. Junge Menschen haben Vertrauen zu mir, sie kommen mühselig und beladen, und ich erquicke sie … Der Herr bereitet vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde … Er sah diesen Tisch am Waldrand stehen, weißgedeckt mit weißen Tellern, und aus den Wiesen stieg weißer Nebel wunderbar.

    Zwei Stunden später wachte Sowtschick auf, neben sich, zusammengerollt, das tief atmende Mädchen. Das ist ja ’n Ding, dachte Alexander und lachte vor sich hin. Das würde er Marianne erzählen müssen, gleich als erstes, oder vielleicht doch lieber nicht? Lieber nicht erzählen und nicht ins Tagebuch schreiben diese Sache, die mußte zwischen ihm und Gabriele bleiben, fest versiegelt, auf immer und ewig.

    Sowtschick ging hinüber in sein Schlafzimmer, stellte den warm gewordenen, brummenden Recorder ab und machte sich lang. Erst jetzt kam ihm die Idee, daß er sich ja dem Mädchen hätte nähern können, und er fragte sich, weshalb ihm in dieser Situation die Idee dazu nicht gekommen war. Vielleicht, weil die Gefühle dieses Menschenkindes allzusehr in eine andere Richtung liefen? Vielleicht auch, weil sie bäuchlings dalag. Einem bäuchlings daliegenden Mädchen ist schwer beizukommen.

    «Was für ein wahnsinniger Tag», sagte er abschließend, und: «Wie gut, daß ich die Tür hinter mir zumachen kann.» Und:

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