Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
nicht als extremistisch wahrgenommen, sondern erscheinen «normal». «Fast jeder hier bei uns denkt so!», verkünden Neonazis immer wieder und meinen damit ihr ganz alltägliches Umfeld: Eltern, Lehrer, Arbeitskollegen und Vorgesetzte, natürlich auch große Teile der Medien und Politik …
Laura sah auf, ihr Nacken schmerzte, und die Schrift verschwamm vor ihren Augen. Langsam stand sie auf und wanderte im Zimmer auf und ab. Sie setzte sich wieder und überflog ein paar Zeilen, bis sie an dem Halbsatz hängenblieb: «98 Prozent aller Gewalt- und anderen Straftäter mit rechtsextremem Hintergrund sind männlichen Geschlechts.»
Wieder sprang sie auf, füllte erneut ihren Becher mit Tee und las weiter.
Es scheint Schutzmechanismen zu geben, die Jugendliche unterschiedlich auf gleiche Erfahrungen und äußere Rahmenbedingungen reagieren lassen.
Dann wurden Arbeitslosigkeit, fremdenfeindliches Umfeld, Lieblosigkeit in der Erziehung und extreme Leistungsorientiertheit angeführt. «Biographische Extremlagen» nannte der Autor das. Ungeduldig las Laura weiter:
Die Folie für die Interpretation der Welt ist die eigene Persönlichkeit. Jugendliche Angehörige rechtsorientierter Cliquen zeichnen sich auffallend häufig dadurch aus, dass sie nur über ein extrem schwach ausgebildetes individuelles Selbstwertgefühl verfügen. Dies macht sie nicht nur anfällig für ein dichotomes Weltbild …
«Was?», rief Laura. «Wieso dichotom, was zum Teufel soll das heißen?» Sie schleuderte das Buch auf den Boden, griff nach dem Fremdwörterlexikon und schlug «dichotom» nach. Sie las «zweigeteilt, gespalten», legte sich neben das Buch auf den Teppich und las den Satz zu Ende.
Dies macht sie nicht nur anfällig für ein dichotomes Weltbild, sondern auch für Strukturen, die offensichtlich die Basis für den Erfolg rechtsextremer Subkulturen und Organisationen bei bestimmten Jugendlichen darstellen: Erst die Gruppe macht sie (scheinbar) stark.
Laura bettete ihren Kopf auf den rechten Arm und schob mit dem andern das Buch zur Seite. Und dann ist alles möglich, dachte sie. Wenn sie in der Gruppe sind, ist tatsächlich alles möglich. Das funktionierte sogar bei Kindern. Der Frosch tauchte wieder auf, schien neben ihr auf dem roten Teppich zu liegen, die Beine nach oben gestreckt, mit zerplatztem Bauch. Sie drehte den Kopf zur anderen Seite und schlief sofort ein.
Sie erwachte aus einem Traum, der vor allem aus Geräuschen zu bestehen schien, aus schrill kreischenden Weckern, klingelnden Telefonen, Kirchenglocken, Martinshörnern, Straßenbahnklingeln. Verblüfft stellte sie fest, dass sie auf dem Boden lag und dass die Geräusche noch immer da waren. Nicht die Martinshörner und Kirchenglocken, aber das Schrillen des Telefons und der Türklingel. Langsam richtete sie sich auf, saß endlich und schaute auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach drei. Sie hatte keine Ahnung, ob morgens oder nachmittags.
Jetzt hörte das Klingeln auf. Die Stille war angenehm und gleichzeitig alarmierend. Ihr war, als hätte sie etwas Wesentliches vergessen. Mühsam wieder auf beiden Beinen, erkannte sie an den Sonnenstreifen, die durch die Vorhangritzen ins Zimmer fielen, dass es Nachmittag sein musste. Langsam ging sie in die Küche und trank ein Glas Wasser. Mindestens vier Stunden hatte sie also auf dem Teppich geschlafen.
Angelo! Er war auf dem Weg hierher oder vielleicht schon da! Das hatte sie vergessen, nein, nicht vergessen, sondern verschlafen. Sie hatte aufräumen wollen, nicht nur die Wohnung, auch sich selbst. Vorsichtig griff sie nach ihrem Handy und betrachtete das Display. Natürlich hatte er angerufen und nicht nur einmal. Außerdem blinkte der Anrufbeantworter ihrer Telefonanlage. Als sie bereits den Finger auf die Taste gelegt hatte, um die Nachrichten abzuhören, klingelte ihr Handy.
Sie schaute nicht auf die Nummer, sondern sagte «Ciao».
«Ciao. Besteht eine Möglichkeit, dass wir uns heute noch treffen?»
«Angelo?»
«Natürlich. Du hast doch gesagt, dass du mich brauchst. Ist das immer noch so?»
«Wo bist du denn?»
«Ich bin in München. Wo bist du, Laura?»
«Zu Hause, in meiner Wohnung.»
«Ich sitze auf der Treppe vor deiner Wohnung. Deine türkischen Nachbarn wollten mich schon zu sich einladen, sie haben mir Kaffee gebracht. Sehr nette Leute!»
Es dauerte eine Weile, ehe Laura antworten konnte. Sie begann eine Entschuldigung zu stottern, dann brach sie ab und lachte los. Er
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