Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Blick auf Lauras vollen Becher. «Lass ihn stehen. Ich schütt ihn weg. Weiß nich, warum die so ’n süßen Dreck herstellen.»
«Macht nichts. Wasser ist bei dem Wetter sowieso besser.»
«Willste Wasser?» Er griff nach einer zweiten großen Thermoskanne. Laura nickte, und er füllte einen Becher für sie.
«Hab leider keine Eiswürfel. Is kein Luxusrestaurant hier unten, was?» Er drehte sich auf ähnliche Weise um sich selbst wie am Morgen auf der Sandbank.
«Hättst du gern eins?»
«Was?» Er hielt inne.
«Ein Luxusrestaurant.»
«Nee!» Er lachte. «Bin nich gern drinnen, musste wissen. Ich brauch Luft.»
«Wo kommst du eigentlich her? Mal redest du fast bayrisch, dann wieder wie ein Berliner.»
Er setzte sich auf seine Anhängerkupplung, stützte beide Arme auf seine Knie und betrachtete Laura prüfend, dann schaute er schnell wieder weg.
«So was darfste nich fragen. Is wie heut Morgen. Nich von hinten an die Leute rangehen und anfassen und nich zu viele Fragen stellen. Aber das kannste nich wissen.»
«Du hast aber gesagt, dass man anfassen darf, wenn man sich kennt. Ist das mit dem Fragen anders?»
«Ja.»
«Du hast mich aber auch was gefragt. Ob ich zum Kaffee kommen will, zum Beispiel.»
Er schaukelte auf seiner Kupplung hin und her. «Ja, aber das is was anderes. Kaffee is was anderes. Ich frag dich aber nich, wo du herkommst oder so was.»
«Und warum nicht?»
«Weil … Mann, du bringst mich ganz durcheinander mit deiner Fragerei. Pass auf, ich versuch’s dir zu erklären. Du sitzt jetzt da in dem Korbsessel. Das bist du. Was du woanders bist, is völlig wurscht. Was du mal warst, auch. Is doch vorbei, oder? Jetzt sitzte in dem ollen Sessel, und das reicht völlig.» Er sprang auf und drehte sich wieder um sich selbst, während Laura den schwarzen Stein in ihrer Hand betrachtete.
«Vielleicht», murmelte sie endlich. «So hab ich die Dinge noch nie gesehen.»
Es stimmt nicht, dachte Laura, als sie wieder zu Hause war und über Ralfs Philosophie nachdachte. Nichts ist vorbei. Nur in dem kurzen Augenblick einer ersten Begegnung gibt es keine Vergangenheit. Aber die Begegnung darf sich nicht vertiefen, denn dann holt die Vergangenheit jeden von uns wieder ein, und dann wird es sehr wichtig, was man woanders war oder ist.
Der gute Ralf würde wahrscheinlich einen Schock bekommen, wenn er wüsste, dass ich Hauptkommissarin der Kripo bin. Und trotzdem hat er auch wieder recht, denn solange wir nichts voneinander wissen, sind wir ganz unbefangen. Wir trinken Kaffee in seinem Tunnel – ganz egal, wer was ist oder nicht.
Beim Gedanken an die abschließende Diskussion über die Bezahlung von fünf Steinen musste sie lächeln. Er wollte absolut kein Geld von ihr annehmen, sie bestand darauf. Zuletzt steckte sie zehn Euro unter einen besonders großen Stein und flüchtete. Als sie sich am Ende der Unterführung noch einmal umsah, stand er da, schwenkte seinen Hut und rief: «Morgen kauf ich richtiges Kaffeepulver!» Seine Stimme hallte von den Wänden wider. Das war die nächste Einladung.
Nein, sie wollte keine Fortsetzung dieser ungewöhnlichen Bekanntschaft. Ein Penner hatte ihr gerade noch gefehlt. Obwohl … es bedeutete auch eine neue Erfahrung. In ihrem Beruf hatte sie schon häufig mit Obdachlosen zu tun gehabt, aber noch nie auf eine freundschaftliche Weise.
Auf der anderen Seite hatte sie nur dieses bisschen Luft, das die Sprachferien ihrer Kinder gewährten. Die knappe Freizeit reichte ja nicht einmal dazu aus, alte Freundschaften zu pflegen. Wie lange hatte sie ihre Schulfreundin Barbara nicht angerufen, geschweige denn gesehen. Ein Jahr? Zwei Jahre? Barbara hatte ihre Kontaktversuche irgendwann aufgegeben. «Ich bin da, wenn du was von mir willst!», hatte sie bei ihrem letzten Gespräch gesagt.
Ich werde sie anrufen, dachte Laura. Ich werde diese Wochen nutzen. Aber das war schon wieder der falsche Ansatz. Die freien Wochen nutzen bedeutete, sie zu füllen. Und Angelo? Eine Woche für ihn? Natürlich. Sie wünschte sich mindestens eine Woche mit ihm. Aber sie hatte Urlaubssperre. Er würde auf sie warten müssen. Das war nun schon häufig so gewesen. Gut war das nicht.
Plötzlich wünschte sich Laura ein Jahr ihres Lebens nur für sich selbst. Ein Jahr, um alte Papiere durchzulesen, all die Briefe, Tagebücher. Ein Jahr, um Fotos zu betrachten, ein Jahr, um das eigene Leben zusammenzukratzen und neu zu ordnen, um Dinge wegzuwerfen, die sie nicht mehr brauchte.
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