Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Ferne.
Sie hatte geträumt, ganz sicher. Und trotzdem war sie überzeugt, dass sich etwas ereignet hatte. Jemand war gestorben. Wer? Sie wollte nicht darüber nachdenken, trank ein paar Schluck kalten Pfefferminztee. Danach setzte sie sich auf den Balkon und betrachtete den Mond. Er hatte einen kreisrunden Ring um sich gezogen, der in den Farben des Regenbogens leuchtete.
Jemand ist gestorben, dachte Laura. Wieder überkam sie dieses Gefühl von Verlorenheit, das ganz neu für sie war und sie beunruhigte.
Als Ralf die Augen aufschlug, machte er sie gleich wieder zu, weil er nicht sicher war, wo er sich befand. Er hatte ein Wesen gesehen, dessen orangerote Haare in großen Zacken zu Berge standen und das einen Nasenring trug. Er lag auf dem Bauch, das konnte er spüren, und er spürte auch, dass er Wasser spuckte. Vielmehr, es lief aus ihm heraus. Aus der Nase und aus dem Mund. Er dachte, dass er vielleicht gestorben sei und jetzt in der anderen Welt wieder aufwachte.
Aber dann wurde er in der Mitte hochgehoben, sodass sein Kopf und Oberkörper nach unten hingen. Noch viel mehr Wasser lief aus ihm heraus, und er wusste nicht mehr, was er denken sollte. Er spuckte, hustete, holte endlich tief Luft und riss erneut die Augen auf. Jetzt lag er wieder auf dem Bauch.
Jemand leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht, deshalb machte er die Augen wieder zu und nahm an, dass er vielleicht nicht gestorben war.
«Ich ruf doch den Notarzt!», sagte jemand.
«Nee, lass mal. Der kommt schon wieder. Wetten, dass der in ein paar Minuten wieder redet. Das ist ’ne zähe Rasse.»
Ralf lag in einer Pfütze. Er hatte das instinktive Gefühl, mit den Armen rudern zu müssen, um oben zu bleiben. Und so ruderte er.
«Siehste! Der wird wieder. Der ist ganz lebendig!»
Ralf hörte das, aber er selbst konnte nichts sagen, weil noch immer Wasser aus ihm herauslief. Es war ein Gefühl, als würde alles aus ihm herausfließen, auch sein Blut und seine Kraft und sein Leben. Aber es war nicht nur ein schlechtes Gefühl, dieses Fließen. Dann fiel ihm diese junge Ratte ein, die er mal in einem halbvollen Wassereimer gefunden hatte. Im Kreis war sie geschwommen, immerzu im Kreis. Er hatte ihr zugeschaut und irgendwann gemerkt, dass ihre Schnauze immer tiefer sank. Aber sie gab nicht auf, schwamm und schwamm im Kreis herum und suchte einen Ausweg. Ralf hatte den Eimer ganz langsam umgekippt und auslaufen lassen. Die kleine Ratte war herausgekrochen und einfach liegen geblieben, weil sie keine Kraft mehr hatte. Lag einfach da, auf dem nassen Boden, wie er jetzt.
Jemand klopfte kräftig auf seinen Rücken. Es war ihm unangenehm, machte aber das Atmen leichter. So viel leichter, dass er sich mit den Armen abstützen konnte und langsam ein bisschen hochkam.
«Siehste! Der is schon wieder auf ’m Damm! He, Kumpel, alles klar?»
Ralf setzte sich hin und horchte lange, ehe er darüber nachdachte, die Augen aufzumachen. Er fürchtete sich davor, den Typ mit den orangeroten Haaren zu sehen. Weil er vielleicht doch gestorben war und es nur nicht gemerkt hatte. Der Typ konnte der Teufel sein, denn in den Himmel würde er sicher nicht kommen. Es half aber nichts, irgendwann musste er die Augen doch aufmachen.
Der mit den orangeroten Zacken auf dem Kopf saß vor ihm und guckte ihn an. Er sah nicht mehr ganz so aus wie der Teufel.
«Na», sagte er, «biste wieder klar?»
Ralf versuchte zu sprechen, bekam aber nur ein heiseres Krächzen heraus und zuckte die Achseln.
«Diese Scheißkerle waren hinter dir her. Hast verdammtes Glück gehabt, dass wir in der Nähe waren. Die sind abgehauen, weil die nur fünf waren und wir zwanzig!» Der Orangerote wies mit seinem rechten Arm in die Dunkelheit. Da saßen und standen lauter seltsame Gestalten herum, Hunde waren auch dabei. Ralf machte die Augen wieder zu. Irgendwie hatte er doch den Verdacht, in der Hölle gelandet zu sein. Wenigstens in der Vorhölle.
«Danke», flüsterte er so leise, dass der Orangerote sich vorbeugte, um ihn zu verstehen.
«Passt schon, Kumpel! Aber allein solltest du dich mit denen da drüben nicht anlegen. Das ist nicht besonders gesund, wenn ich dir ’n Rat geben darf. Wir haben die schon ’ne ganze Weile im Auge.»
Ralf nickte. Das Fließen hatte aufgehört. Jetzt war er einfach nur noch müde. So müde, dass er sich am liebsten nach hinten hätte fallen lassen. Aber das ging nicht. Er musste einen sicheren Platz finden, den hinter der Lukaskirche. Unsicher
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