Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
tastete er nach seinem Rucksack, fand ihn gleich neben sich. Er versuchte aufzustehen, taumelte. Als er den Rucksack hochnehmen wollte, fiel er wieder um. Der Orangerote und all die andern hatten ihm schweigend zugesehen.
«Nee», sagte der Orangerote, «das geht noch nicht, Kumpel. Würde sagen, dass du dich erst mal ein bisschen langlegst. Da drüben, wo’s trocken ist. Wir bleiben heute Nacht hier. Kannst dich also ruhig ausschlafen.»
ALS LAURA am nächsten Morgen ihr Dezernat betrat, wusste sie instinktiv, dass eine Hiobsbotschaft auf sie wartete. Sie versuchte sich zu wappnen, ging alle Möglichkeiten durch und konnte ihre Vorahnung trotzdem nicht einkreisen. Falls einem Kollegen etwas zugestoßen war, hätte man sie angerufen. Es musste also etwas anderes sein.
Claudia lächelte ihr zu und brachte sofort eine Tasse Kamillentee.
«Geht’s dir besser?»
«Danke, viel besser. War nur eine kurze Attacke.»
«Gut, dann setz dich erst mal hin und trink deinen Tee.»
«Wieso?»
«Nachbehandlung. Man darf diese Geschichten nicht auf die leichte Schulter nehmen.»
«Das ist doch sonst nicht deine Art! Was ist denn los?»
«Du bist es nicht gewöhnt, dass jemand sich um dich kümmert, was? Du hast dich schon so oft um mich gekümmert, hast dich meinetwegen sogar mit dem Chef angelegt! Kannst du es jetzt nicht einfach mal aushalten, dass ich dir Kamillentee koche, weil ich mir Sorgen um dich mache?»
Laura setzte sich und trank ihren Tee. Wartete.
Als sie die Tasse ausgetrunken hatte, sah Claudia von ihrem Schreibtisch auf.
«Bist du wirklich okay?»
«Ja, natürlich. Sonst läge ich im Bett! Jetzt sag schon, was los ist!»
«Woher weißt du, dass etwas los ist?»
«Ich weiß es einfach!»
«Du bist erstaunlich.» Claudia senkte den Kopf und schloss kurz die Augen. «Ich will es dir eigentlich nicht sagen, Laura.»
«Sag es.»
«Karl-Otto Mayer ist gestorben. Sein Arzt hat hier angerufen, weil der alte Herr deine Dienstnummer auf ein Blatt Papier geschrieben hatte. Als erste zu benachrichtigende Person im Fall seines Ablebens.»
Behutsam stellte Laura ihre Tasse auf Claudias Schreibtisch ab, stand auf, verließ das Dezernatsbüro, schloss leise die Tür hinter sich und flüchtete in ihr eigenes Zimmer am Ende des Flurs. Dort stellte sie sich ans Fenster, ging zweimal auf und ab, versetzte ihrem Ledersessel einen Tritt und schaute zu, wie er davonrollte.
Mit genau diesem Tod hätte sie rechnen müssen, aber sie hatte ihn verdrängt. Das Mordgeständnis des alten Herrn hatte ihm wohl den Rest seiner Kraft geraubt.
«Fragil», hatte er am Telefon gesagt.
Beim Gedanken an seine Stimme und seine Worte liefen Laura Tränen übers Gesicht. Fragil. Genauso fühlte sie sich selbst seit einiger Zeit. Zerbrechlich.
Plötzlich sehnte sie sich heftig nach Angelos Nähe, nach seinem Körper, seinem Geruch, seinem Blick. Heute Abend werde ich ihn anrufen, dachte sie. Heute Abend werde ich ihn bitten zu kommen. Nach dieser Entscheidung trocknete sie ihre Augen, zog sich die Lippen nach und kehrte zu Claudia zurück.
«Würdest du bitte einen anderen Dienstwagen für mich organisieren? Meiner stinkt. Ich brauche den neuen in zehn Minuten.»
«Klar, mach ich.» Claudia warf Laura einen prüfenden Blick zu. «Du willst den alten Herrn nochmal sehen, hab ich recht?»
«Natürlich. Und ich will sehen, ob er mir nicht etwas hinterlassen hat, das mir im Fall Dobler weiterhilft.»
Ehe Claudia den Telefonhörer aufnahm, holte sie tief Luft. «Ich kann dir außerdem eins versprechen, Laura: Ich werde Peter Baumann von seiner Toilette runterholen, und zwar noch heute Vormittag!»
Laura drehte sich schnell zur Tür, weil ihr schon wieder Tränen in die Augen traten.
Während sie auf den neuen Dienstwagen wartete, versuchte sie in den Akten des BKA über den «Schwabinger Sturm» zu lesen. Es handelte sich um eine rechtsradikale Gruppe von ungefähr vierzig Personen. Die Hälfte von ihnen war Mitglied der NPD, die meisten gehörten auch der Anti-Antifa-Bewegung an. Einige hatten Verbindung zum «Weißen Arischen Widerstand» in Holland und Dänemark und zu Gruppen in den USA und Russland. Ein paar von ihnen hatten Gefängnisstrafen wegen Volksverhetzung oder wegen Störung der Totenruhe auf dem jüdischen Friedhof von Fröttmaning verbüßt. Vier saßen derzeit wegen Körperverletzung und diversen Übergriffen auf Ausländer im Gefängnis. Vor einem halben Jahr hatten die Stürmer Hakenkreuze ans Haus der Kunst
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