Hundszeiten: Laura Gottbergs fünfter Fall
Ernährung, Rauchverboten und Gott weiß was malträtieren. Wollen die denn, dass wir alle hundertzehn werden? Das wird doch viel zu teuer! Und macht auch keinen Spaß!» Das war typisch Emilio Gottberg. «Die Leute sollen lieber bewusst leben und sich damit auseinandersetzen, dass sie sterblich sind!» So ungefähr lautete das Lebensmotto ihres Vaters, und Laura wünschte sehr, dass er mindestens hundertzehn werden würde. Was allerdings sicher nicht in seinem Sinne war. Und sie selbst? Verdrängte sie ihre Sterblichkeit? Laura ließ sich auf das große Sofa im Wohnzimmer fallen und legte die Beine hoch. Hier war der kühlste Platz in der gesamten Wohnung, weil sie für permanente Dunkelheit gesorgt hatte.
Natürlich verdrängte sie ihre eigene Sterblichkeit, jedenfalls zu einem großen Teil. Und doch … In den letzten Wochen war diese Abwehr durchlässig geworden. Sie selbst war durchlässiger geworden. Für Gefühle wie Verlorenheit, die sie absolut nicht schätzte. Eigentlich wollte sie Angelo anrufen, spürte aber eine ungewohnte Scheu, wie schon ein paarmal in den letzten Tagen.
Auch Beziehungen waren sterblich, Liebe. Sie fürchtete, sich auszuliefern, wenn sie ihm ihre Verlorenheit zeigte. Er hatte in letzter Zeit manchmal so verändert und irgendwie distanziert geklungen, als entfernte er sich von ihr. Sie sahen sich einfach zu selten, kannten sich nicht gut genug, um die Verfassung des anderen auszuloten. Aber vielleicht war das auch nur eine Ausrede für ihre eigene Feigheit.
Das Telefon stand im Flur, sie musste nur aufstehen und einen Knopf drücken, dann konnte sie mit Angelo sprechen. Also stand sie auf, ging in den Flur und stellte sich vor die Telefonanlage, streckte die Hand aus, zog sie wieder zurück und schreckte zusammen, als es in diesem Augenblick begann zu klingeln. Zögernd hob sie ab, schaute nicht auf das Display, sagte einfach «hallo».
«Buona sera, Laura. Sono fortunato di trovartia casa.»
«Sei fortunato ma anch’io sono fortunata. Wir haben beide Glück gehabt. Ich wollte dich gerade anrufen.» Ihre Worte kamen ganz locker, aber es stimmte nicht. Sie war nicht locker, und sie war sicher, dass er einen falschen Eindruck bekommen würde.
«Wie schön. Aus einem bestimmten Grund?»
«Ja, ich denke schon. Ich hatte Sehnsucht nach dir.»
«Hattest oder hast?»
«Ich habe.»
«Bene.»
«Was?»
«Ich sagte gut, weil ich dich fragen wollte, ob du diesen Zustand so in Ordnung findest.»
«Welchen Zustand?»
«Den Zustand der Sehnsucht und die permanente Trennung mit kurzen Unterbrechungen.»
Lauras Herz tat ein paar stolpernde Schläge. Plötzlich war sie sicher, dass er Schluss machen wollte.
«Nein», erwiderte sie leise, bemüht, ihrer Stimme einen halbwegs festen Klang zu geben. «Aber es stimmt nicht ganz. Manchmal finde ich es gut, weil wir uns immer neu begegnen. Ich habe Angst vor der Gewohnheit.» Schon wieder schob sie ihn weg, dabei wollte sie das gar nicht.
«Ich glaube nicht, dass Gewohnheit unser Problem ist, Laura. Es wird sicher eine ganze Weile dauern, bis wir uns aneinander gewöhnen oder gar miteinander langweilen.»
«Was willst du damit sagen?»
«Ich denke, dass unsere Beziehung spannend genug ist, um ein bisschen mehr zu riskieren.»
Laura fiel nichts ein.
«Bist du noch da?»
«Ja.»
«Ist mein Vorschlag so furchtbar, dass es dir die Sprache verschlagen hat?»
«Nein.»
Er lachte. «Warum sagst du dann nichts?»
Laura räusperte sich. «Weil … ich weiß nicht genau. Ich wollte dir auch etwas sagen, Angelo. Ich wollte dich fragen, ob du nach München kommen kannst.»
«No! Non posso crederti! Sag das nochmal, Laura!»
«Warum denn?»
«Ich würde es gern noch einmal ganz deutlich hören, damit ich es auch glauben kann.»
«Bin ich so schlimm?»
«Nein, nur halb so schlimm.»
Laura antwortete nicht.
«Du lachst ja gar nicht. Stimmt was nicht?»
«Es geht mir nicht besonders gut, Angelo. Ich fühle mich so ähnlich, als hätte jemand auf mich geschossen und mich knapp verfehlt. Wie auf dem Hügel bei Asciano, als die Chinesen in dem schwarzen Geländewagen auf uns geschossen haben.»
«Was ist passiert?»
«Ein alter Mann ist gestorben, der ein stiller Held war, ein junger Neonazi hält grauslige Reden, und an der Isar grölen sie Hasslieder, zwei Obdachlose wurden erschlagen, die Hitze macht uns alle krank, Luca wird in England als Nazi beschimpft … ich habe ein gelbgrünes Auge und Bauchweh. Mein Penner mit dem Federhut ist
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