Hungerkralle
der
Hoteldetektiv vom Adlon.«
»Na und? Ist das etwa ein Grund, mir fast
den Mantelärmel abzureißen?«
»Durchaus. Wenn der mich nämlich eben im Oriental erkannt hätte, könnten wir in Berlin einpacken.«
»Mensch, Otto, red doch endlich mal
Klartext!«
Die beiden Amerikaner richteten sich auf.
Der Zivilist ließ die Motorhaube fallen.
»Meunier war einer von den heimlichen Roten im Adlon. War
mein Oberleutnant ‘14/’18 und hat zum Schluss den Volkssturmtrupp der
Hotelbediensteten befehligt. Ein schlauer Hund, dieses Schwein. Weil der
Direktor große Stücke auf ihn hielt und er auch von Udet und anderen hohen
Luftwaffenoffizieren protegiert wurde, konnte unsere Adlon- NSDAP-Zelle
ihm nie etwas Illegales nachweisen.«
Für Otto, den strammen Parteigenossen der
ersten Stunde, war auch schon ein Zentrums-Sympathisant ein Roter gewesen. Dass
aber Meunier sein Stillhalten quasi erpresst hatte, weil der
Detektiv herausgefunden hatte, dass von ihm auf der hauseigenen Hoteldruckerei
ab 1943 Lebensmittelkarten im großen Stil gefälscht worden waren, fühlte Otto
Kassner sich indes nicht genötigt, Richter zu erzählen.
Der schaute nun ebenfalls durch die Heckscheibe. Einer
der Amis, ein Sergeant, salutierte und ging ins Oriental zurück.
Der andere Uniformierte, ein Offizier, und der Zivilist stiegen in den Horch.
Der Wagen wendete und fuhr in Richtung Kurfürstendamm davon.
»Aha, langsam begreife ich«, sagte
Richter. »Gesehen habe ich den Kerl mit Hotte auch schon irgendwo. Ich meine,
auf dem Reichstagsmarkt zusammen mit Hofmann. Im Adlon damals aber
bestimmt nicht. Wir sind ja alle erst am 30. April in Berlin eingetroffen. Und
in der Nacht, als Adolf, Hotte und ich die Reichsbank-Kisten in den Keller
geschafft haben, war die Volkssturmtruppe schon verschwunden.«
»Nicht alle. Meunier war noch
da, das weiß ich genau. Aber ich Idiot dachte immer, dass er beim Brand
verreckt ist, weil mir das ein paar Leute unabhängig voneinander erzählt
hatten.«
Otto Kassner biss sich auf die Lippen und
überlegte. Dann sagte er: »Ob du Wolfgang Richter oder Schulze heißt und Hotte
jetzt Brandermann oder was weiß ich, ist egal. Euch kennt kaum einer in Berlin,
und Adolf auch nicht. Aber wenn ich hier als Otto Böhme durch die Welt
spaziere, können wir alle unsere Pläne begraben, falls Meunier mich
jemals zu Gesicht bekommt.«
»Das heißt?«
»Das bedeutet, dass ich mich auch
weiterhin in der Öffentlichkeit rarmachen werde. Auf keinen Fall darf ich im Oriental aufkreuzen, solange Meunier in dem Laden verkehrt.«
»Man könnte doch…« Richter strich mit dem
ausgestreckten Zeigefinger um seinen Hals.
»Du kannst Gift drauf nehmen, dass ich diesbezüglich
intensiv nachdenken werde. Aber vorerst versucht herauszufinden, was er so
treibt. Ich fahre nach Westend zurück. Informier du gleich erst mal Hotte.«
Richter stieg aus, und Kassner setzte
sich ans Steuer.
11. Kapitel
Hungerwinter
Der Wind kam gleichmäßig und schneidend.
Das matte Licht einer silbrigen Januar-Sonnenscheibe beschien eine weiße
Fläche, die sich wie ein sorgfältig geglättetes, schier endloses Tuch bis zu
der Anhöhe am Horizont erstreckte. Das Birkenwäldchen, das dort gestanden
hatte, war von den Anwohnern der Braunschweiger Stadtrandsiedlung bereits vor
Weihnachten restlos abgeholzt worden.
Vera hatte den Kindern ihrer Wirtin zwei
»Pazifiks« vorbeigebracht, zwei Verpflegungspäckchen, die eigentlich für
britische Truppen in Fernost bestimmt waren und die je eine Tagesration Nahrung
für einen Soldaten enthielten. Danach war sie der Witwe dabei zur Hand
gegangen, für die Zwillinge einen Wintermantel aus einem amerikanischen
Rucksack zu schneidern. Sie würden ihn abwechselnd anziehen müssen. Bei der
Näharbeit trugen die Frauen Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern, denn die
letzte Fuhre Holz und Kohlen, die Brians Adjutant vorbeigebracht hatte, wurde
dringend zum Kochen in dem Haus in der Vorortsiedlung benötigt, wo Vera noch
immer die Dachkammern bewohnte.
Der Colonel war
jetzt oft in Berlin, und er und Vera trafen sich seltener. Seit man die
Erkennungsmarke des zweiten Sohnes in einem Massengrab bei El Alamein gefunden
hatte, war er von Stunde an wie verändert gewesen. Er vergrub sich zunehmend in
seine Arbeit. Den jovialen, charmanten Brian Teasdale gab es nicht mehr. Nicht
dass er sich Vera gegenüber in irgendeiner Weise inkorrekt verhielt, aber der
Schmerz über den Verlust beider Söhne hatte
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