Hungerkralle
dem Prachtwetter stimmte. Endlich
schien der Frühling den Hungerwinter vertrieben zu haben. Karl hatte zum ersten
Mal seinen Übergangsmantel an und die dicke Filzkappe mit den Ohrenschützern
durch einen leichten Hut ersetzt. Bei strahlendem Sonnenschein erreichten die
beiden Freunde Frohnau. Benno fuhr langsam durch den Kasinoweg und wies
plötzlich auf ein Haus am S-Bahndamm mit einer abschüssigen Rampe zu einer
Garagentür. »Det dürftet sein!«
Sie parkten den Ford in der Welfenallee und
schlenderten zum Kasinoweg zurück. Die Villa sah unbewohnt aus. Es gab keine
Gardinen oder Vorhänge an den Fenstern, und der Garten wirkte verwildert.
»Wennste mir frachst, die Bande hat sich hier verdrückt.« Am Pfeiler der
Gartenpforte über dem Briefkasten hing nur die Hausnummer, aber kein
Namensschild.
»Schau mal, da ist nebenan jemand im
Garten – ich geh mal fragen.«
»Und ick probier mal meen Jlück bei dem
Haus uffer andren Seite.«
Auf der Fahrt nach Frohnau hatten sich
Benno und Karl eine unverfängliche Geschichte zurechtgelegt. Sie würden sich
als Hübners Verwandte aus der sowjetischen Zone ausgeben, die ihren Cousin
suchten.
Die Frau im Garten, eine hagere, ältliche
Jungfer mit einem Dutt, schrubbte eine kniehohe Steinstatue mit einer
Wurzelbürste ab. Es war ein in Meditationshaltung sitzender Buddha. Sie
erblickte Karl vor ihrer Gartenpforte und legte die Bürste aus der Hand.
Karl lüftete seinen Hut. »Entschuldigen
Sie bitte, gnädige Frau, aber vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche einen
Cousin von mir, der hier im Kasinoweg wohnen soll.«
Fräulein Schwandt wollte den lästigen
Störenfried schon kurz abwimmeln, als der plötzlich sagte: »Übrigens, gnädige
Frau, das ist wirklich eine schöne Figur des Erhabenen Gautama, die Sie da
soeben säubern. Handelt es sich womöglich um ein Replikat des Großen Buddhas
von Kamakura?«
Fräulein Schwandt war augenblicklich wie
verwandelt. »Oh, der Herr kennt sich ja in buddhistischer Ikonografie bestens
aus. Das ist in der Tat eine Miniaturkopie des Großen Buddhas von Kamakura.«
Karl setzte sein gewinnendstes Lächeln
auf. »Mein Cousin und ich sind nur auf Durchreise in Berlin und wollten bei der
Gelegenheit einen Verwandten von uns besuchen – falls er nach all den
schrecklichen Jahren überhaupt noch lebt. Man sagte uns, er würde da wohnen.«
Karl zeigte auf die Villa und zog Wageners Foto aus der Manteltasche. »Nur
sieht mir das Haus recht verlassen aus. – Hier, das ist er. Adolf Hübner heißt
er.«
Fräulein Schwandt betrachtete das Bild
und nickte. »Der Herr hat in der Villa gewohnt, ist aber im letzten Herbst
weggezogen.«
»Mit seiner Frau und den beiden Kindern?«
»Kinder? Nein, mit den anderen drei
Herren, mit denen er dort gleich nach Kriegsende eingezogen ist.«
Karl machte ein betroffenes Gesicht. »Oh,
Sie haben wirklich nie Frau Hübner gesehen, eine kleine, freundliche Frau, und
ihre zwei reizenden Jungen?«
»Ganz bestimmt nicht. Das wäre mir
aufgefallen.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo Herr Hübner oder die
anderen Herren jetzt wohnen? – Waren das etwa die Herren Hartmann, Klinke und
Rauchberg, so ein kleiner dicker Mann?«
Fräulein Schwandt lächelte milde. »Ich versuche in
einer Welt des Wahnsinns ein Leben in Stille und geistiger Sammlung zu leben,
mein werter Herr.«
Karl nickte verständnisvoll.
»Weder wusste ich, wie der Mann auf dem
Foto heißt, noch kenne ich die Namen seiner damaligen Mitbewohner. Aber ich
meine gehört zu haben, dass am Tag ihres Umzugs einer gesagt hat, dass er nach
Westend vorfahren würde. – Und richtig dick von den vier Männern war eigentlich
nur Ihr Verwandter. Die anderen Herren…« Fräulein Schwandt beschrieb Karl die
Männer. Leute mit Brandverletzungen im Gesicht gab es nach dem Krieg unzählige
und mensurnarbige Akademiker auch. Über den dritten Mitbewohner von Wagener
sagte sie nur: »Das war ein gut aussehender Mann, etwa von Ihrer Statur, aber
deutlich jünger.«
Karl zog erneut den Hut. »Ich danke Ihnen
vielmals für die Auskunft, gnädige Frau.«
Benno kam ihm auf der Straße entgegen.
»Ick hab bloß Nieten jezoogen. Da harn Flüchtlinge aus Pommern jewohnt, die von
nischt wussten.«
»Ich nicht. Wagener war tatsächlich bis
letzten Herbst in der Villa.«
»Wir haben sofort ein paar Spezialisten
in die Villa geschickt, Paul. Die Analyse der Papierschnipsel in der Garage und
gewisse Farbspritzer auf dem Boden lassen ohne
Weitere Kostenlose Bücher