Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
angekommen war und vom Gang her nicht mehr zu sehen war, drückte er mit aller Kraft den Griff der Schiebetür zur Seite, um die Automatik zu beschleunigen. Er hörte überdeutlich das Rauschen der Fahrt über den Schwellen, das Klopfen der Räder auf den Schienen, er sah den feinen Schneestaub, der durch die Fugen der Passage hereingeweht war, er riss auch die zweite Tür mit aller Kraft auf und rannte weiter. Er hatte aufgehört zu husten, mit zittrigen Fingern steckte er das Taschentuch ein. Was war eigentlich los? War er auf der Flucht? Aber wohin sollte er fliehen? Der Zug war begrenzt, er war eingesperrt in diesen Zug, und abspringen konnte er nicht bei dieser Geschwindigkeit.
Er riss die Tür zum Speisewagen auf. Es saßen nur wenige Reisende an den Tischen. Sie schauten neugierig auf, als er hereingestürzt kam. Er war viel zu schnell, gar nicht wie ein normaler Reisender. Dazu war er verschwitzt, und bestimmt stand ihm die Panik im Gesicht.
Er hielt an und versuchte, ruhig zu atmen. Er nahm das linke Handgelenk vor die Augen und schaute auf seine Uhr. Dann blickte er um sich, als ob er einen freien Tisch suchen würde. Vielleicht sollte er sich hinsetzen, ganz unauffällig, überlegte er, wie ein gewöhnlicher Mann auf Dienstreise, Kaffee bestellen, in aller Ruhe das Auftauchen des Zollbeamten abwarten und auf dessen Bitte hin den Pass vorzeigen. Der war gültig und in Ordnung, es gab keinen Grund zur Aufregung.
Kayat drehte sich um und schaute zur Tür, durch die er eben hereingekommen war. Sie bestand aus schwach durchsichtigem Glas, dahinter bewegte sich nichts. Durch die Fenster sah er ein Weindorf drüben am Hang vorbeiziehen, die Dächer weiß verschneit. Die Leute an den Tischen hatten sich beruhigt, einige dösten vor sich hin, andere lasen in Zeitschriften, niemand schaute mehr auf.
Als ihn der Kellner, ein Südländer offensichtlich, mit dickem, rotem Gesicht, an einen Tisch bitten wollte, fasste Kayat einen Entschluss. Er war jetzt wieder ganz ruhig, Herr jeder Situation, und wäre sie noch so kritisch gewesen, er lehnte dankend ab, ging zwischen den Tischen hindurch nach vorn zum Ausgang. Er berührte leicht den Griff der automatischen Tür und wartete, bis sie sich zur Seite schob, er betrat den nächsten Wagen. Es war ein Erstklass-Waggon in hellen Farben, der fast geräuschlos über die Schienen glitt.
Kayat stieß die Tür zur Toilette auf. Er trat ein, schloss hinter sich zu und öffnete die Reisetasche. Er riss den aufgeklebten doppelten Boden weg, warf ihn ins Klosett und spülte ihn hinunter. Dann entnahm er dem bloßgelegten Taschenboden einen flachen Plastikbeutel mit Diamanten drin. Er riss eine Packung Präservative auf, klaubte eines heraus und füllte die Diamanten hinein. Er nahm aus einem Lederbeutel eine Spraydose mit Rasierschaum, öffnete seinen Hosenbund und zog sich die Unterhosen herunter. Er sprayte sich Schaum in die Hand, rieb damit das gefüllte Präservativ ein, beugte sich vor, indem er sich mit der anderen Hand am Lavabo abstützte, und schob sich die Diamanten tief in den After. Er erhob sich wieder aus seiner gekrümmten Haltung, wenn auch unter einigen Schmerzen. Er wartete eine Weile mit geschlossenen Augen, um zu prüfen, ob die Diamanten drinblieben. Sie blieben drin.
Als es draußen an die Tür klopfte, zog er sich die Hosen hoch, schloss mit genauen, schnellen Bewegungen den Bund, sprayte sich das Kinn voll Schaum und riss eine Wegwerfklinge aus der Packung. Damit schabte er sich die linke Gesichtshälfte frei.
Als es ein zweites Mal an die Tür klopfte, diesmal härter, bestimmter, öffnete er. Vor ihm stand der Zollbeamte, ein junger Mann mit blondem Schnurrbart.
»Kann ich bitte Ihren Ausweis sehen?«, fragte er.
»Aber gern«, sagte Kayat, »nur einen Moment.«
Er wusch sich sorgfältig die Hände, trocknete sie an einem der bereitliegenden Papiertücher ab, warf es in den dafür bereitstehenden Eimer und nahm den Pass aus der Jackentasche. »Bitte sehr«, sagte er freundlich lächelnd, als er ihn hinstreckte.
Der Beamte hatte wortlos zugeschaut, breitbeinig die Schläge des fahrenden Wagens auspendelnd. Er nahm den Pass, blätterte darin, biss sich fest am Foto, das er lange anstarrte.
»Sie sind Libanese«, sagte er.
Kayat schabte sich behutsam die rechte Gesichtshälfte frei. »Ja«, antwortete er, »das wird doch nicht verboten sein?«
Der Beamte entnahm seiner Mappe einen handlichen Apparat, tippte etwas ein, während sich Kayat das
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