Hunkelers erster Fall - Silberkiesel
und gingen selber auch zu Boden. Hunkeler rappelte sich hoch, stieß einen kurzen, blöden Fluch aus und konnte gerade noch zusehen, wie Kayat in Richtung Herrentoiletten verschwand.
Auch Madörin war inzwischen wieder hochgekommen. »Polizei!«, schrie er, riss die Pistole heraus und spurtete zusammen mit Haller und Schneeberger den Gang hinunter.
Hunkeler verwarf entschuldigend die Hände. »Es tut mir leid«, sagte er zu den erschrockenen Eltern, »es geht hier um Diamanten. Melden Sie sich bei der Polizei.« Er sah, wie die Mutter das schreiende Kind auf die Arme nahm und zu beruhigen versuchte. Dann rannte auch er los Richtung Toilette, denn schließlich war er der Leiter der Aktion, und der Teufel mochte wissen, was dieser Madörin mit seiner Pistole anstellte.
Er kam noch rechtzeitig hin, um Haller zu stoppen, der sich eben anschickte, gedeckt von seinen Kollegen, die schießbereit ihre Pistolen vorgestreckt hielten, mit der rechten Schulter die Toilettentür einzurennen.
»Stopp!«, rief Hunkeler. »Seid ihr alle übergeschnappt?« Er wartete, bis der enttäuschte Madörin zur Seite trat, ging hin, drückte die Klinke hinunter, die Tür ging auf.
Vor ihm lag ein gekachelter Raum. Rechts zwei Lavabos, links vier Pissschüsseln, hinten waren die Kabinen. Er ging hin und klopfte an die erste Tür. Nach einer Weile ging sie auf. Ein alter Mann stand dahinter, der sich offensichtlich soeben die Hosen hochgezogen hatte. Er schlotterte vor Angst.
Hunkeler wollte sich entschuldigen, da sah er, wie Madörin nebenan mit vorgehaltener Pistole eine Tür eintrat. Hunkeler riss ihn weg und schaute hinein. Ein junger Mann saß auf der Schüssel, ein Fixer, die Spritze steckte in der linken Armbeuge. Lautlos glitt sein Oberkörper nach hinten an den Spültrog, sein Kopf senkte sich mit geschlossenen Augen auf die Brust.
In einer Kabine weiter hinten ging die Spülung. Eine Tür öffnete sich, Kayat kam heraus, sehr erstaunt über die Männer, die ihn sogleich packten. Hunkeler sah, wie sich Madörin zum Klo hinstürzte, in dem immer noch die Spülung lief, wie er sich die Jacke vom Leib riss, den Hemdärmel nach hinten streifte und die Hand bis über den Ellbogen in die Röhre hinunterstreckte. »Nichts«, sagte er.
Erdogan Civil, achtunddreißigjähriger Saisonnier aus dem türkischen Selçuk, verheiratet und Vater dreier Kinder, stand in der Garderobe der Basler Kanalarbeiter (Hochbergerstraße) unter der Dusche. Er hatte zusammen mit seinen ausländischen Kollegen sechseinhalb Stunden in den unterirdischen Röhren verbracht, teils in den hohen, drei Meter breiten Hauptleitungen, die das Abwasser der umliegenden Quartiere aufnahmen und bündelten, teils in den nicht einmal mannshohen, engen Zubringern. Er hatte über Mittag einen Imbiss zu sich genommen, den er in einer Plastiktasche mitgebracht hatte, und eine Flasche Bier getrunken. Jetzt hatte er sein Tagewerk hinter sich und spülte unter der Brause den Kanalisationsgeruch weg.
Er hätte nicht behaupten können, dieser Geruch sei ihm unangenehm. Was hieß hier schon unangenehm. Dies war eine sehr gut bezahlte Arbeit. In der Türkei verdiente ein ungelernter Arbeiter wie er, wenn er überhaupt Arbeit fand, umgerechnet rund hundert Schweizer Franken im Monat. Hier bekam er dreißigmal mehr. Er konnte mit diesem Lohn ganz gut leben und erst noch seine Familie, die er in der Türkei hatte zurücklassen müssen, samt Großeltern, Tanten und Schwägerinnen ohne weiteres am Leben erhalten. Zudem brachte er es noch fertig, pro Monat zwei-, dreihundert Franken auf die hohe Kante zu legen, je nachdem, und damit würde er sich in einigen Jahren in seinem Heimatort ein kleines Hotel mit einem Dutzend Gastbetten kaufen können. Selçuk lag neben Ephesus, der alten Griechenstadt, es wimmelte von Rucksacktouristen, welche die Ruinen besuchen und möglichst billig übernachten wollten. Erdogan würde seine Betten voll haben. Voraussetzung dafür war, hier in dieser kalten Stadt einige Jahre in den Röhren herumzukriechen, das lohnte sich schon.
Zudem war ihm aufgefallen, dass jeder Geruch eine eigene Dynamik entwickelte. Manchmal war ein Geruch ein Gestank, der einen fast zum Erbrechen zwang. Doch im Handumdrehen war er ein vertrautes Stück Heimat, das einen anheimelte und beruhigte. Man gewöhnt sich an alles, das hatte Erdogan gelernt, nur nicht an die demütigende Hoffnungslosigkeit.
Er drückte noch einmal auf den an der Wand befestigten Shampoo-Behälter, rieb sich
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