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Hybrid

Titel: Hybrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wilhelm
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ihr.
    Juli sah in Richtung der Bäume. Etwas bewegte sich dort flüchtig.
    »Was ist da?«, fragte Tom.
    Juli wandte sich um und sah wieder geradeaus. »Lass uns langsam weitergehen. Irgendjemand folgt uns schon eine Weile im Wald. Er bleibt immer auf unserer Höhe und beobachtet uns von dort. Verhalte dich unauffällig, damit er nicht merkt, dass wir ihn gesehen haben.«
    »Ist das wahr? Und das sagst du erst jetzt?« Während Tom weiterging, schielte er aus dem Augenwinkel hinüber zu den höheren Bäumen. Jetzt sah er auch, dass sich dort, kaum zwanzig Meter von ihnen entfernt, ein Wesen zwischen den Schatten der Stämme bewegte. Leicht gebeugt, auf zwei Beinen und sehr schnell. Für einen Affen war es zu groß. Es musste ein Indio sein.
    Während der nächsten halben Stunde war Toms Aufmerksamkeit vollkommen gefesselt von der unbekannten Gestalt. Gemeinsam mit Juli gingen sie am Flussufer entlang, konnten eigentlich hinter jeder Biegung auf eine kleine Siedlung oder auf ein Boot stoßen, aber er dachte kaum darüber nach. Zu sehr versuchte er auszumachen, wer ihnen auflauerte. Aber die Person war zu flink. Und irritierenderweise bewegte sie sich dabei seltsam gekrümmt, gar nicht so, wie man es von einem Indio, ob Krieger oder Fährtenleser, erwarten würde.
    Und mit einem Mal war die Gestalt verschwunden.
    »Er ist weg«, bemerkte Juli. Sie blieb stehen und sah in den Wald. Auch Tom stoppte und versuchte, zwischen den Bäumen etwas zu erkennen. Aber der Wald war reglos.
    »Hast du etwas erkennen können?«, fragte Tom. »Er war immer so schnell. War das überhaupt ein Mensch? Er ging so merkwürdig.«
    »Ich konnte sehen, dass er etwas trug. Eine Schärpe oder Tasche. Ein Tier war es also nicht. Aber ich wollte auch nicht hinüberstarren.«
    »Nun, offenbar hat er jetzt genug von uns. Entweder er ist zufrieden und bleibt fort, oder er ist zu dem Schluss gekommen, dass wir feindlich oder ganz schmackhaft aussehen, und kommt gleich mit seinem ganzen Dorf zurück.«
    Als sich auch nach einer Weile nichts regte, setzten sie ihren Weg fort. Aber schon kurz darauf blieben sie stehen. Vor ihnen am Flussufer, keine fünfzig Meter entfernt, stand jemand und schien auf sie zu warten. Er befand sich im Schatten eines weit über den Fluss ragenden Baumes, sodass er nur als Silhouette zu sehen war. Sein Oberkörper war zur Seite gebeugt, ein Arm hing fast bis auf den Boden.
    »Er ist es …«, raunte Tom. »Was hat er vor?«
    Der Mann bewegte sich umständlich. Nach einer Weile hielt er einen Beutel in der Hand, den er über der Schulter getragen hatte. Er streckte den Arm seitlich aus und hielt ihn so, als wolle er sichergehen, dass sie sahen, was er tat. Dann setzte er den Beutel langsam auf dem Boden ab. Als er fertig war, richtete er sich wieder auf und lief mit überraschend gelenkigen Bewegungen in den Wald.
    »Los, das müssen wir uns ansehen«, rief Juli und lief eilig los. Als Tom mit der schweren geschulterten Tasche zu ihr aufschloss, saß Juli bereits auf dem Boden und hielt einen kleinen Rucksack in den Händen. Sie sah zu ihm auf.
    »Der gehörte Marie«, sagte sie mit bebender Stimme.
    Tom setzte seine Tasche ab und ließ sich neben Juli nieder, die den Rucksack öffnete. Sie zog ihn auf und sah hinein. Er war fast leer. Sie griff hinein und holte ein T-Shirt heraus. Sie ergriff es mit beiden Händen, hielt es an ihre Nase und vergrub ihr Gesicht darin.
    Tom sagte nichts, als Julis Schultern sich zu heben und zu senken begannen. Er hörte sie leise schluchzen und legte eine Hand auf ihren Arm.
    Nach einigen Minuten ließ Juli das T-Shirt sinken, legte es sich in den Schoß und atmete tief durch.
    »Wir finden sie«, sagte Tom halblaut, und er sagte es nicht, um sie zu beruhigen. Er wollte es.
    Juli griff ein weiteres Mal in den Rucksack. Dieses Mal holte sie ein Notizbuch hervor und schlug es auf.
    »Ihr Tagebuch …«, sagte sie und begann, es zu lesen.
    Tom stand auf. Er wollte sie eine Weile allein lassen. Er ging zum Ufersaum und sah auf den träge dahinziehenden Fluss. Welch ein abgeschiedener Ort dies war und wie unwahrscheinlich, dass er nun hier stand, irgendwo im Urwald, an einem Fluss, dessen Namen er nicht kannte, der vielleicht nicht einmal einen Namen hatte. Und hier fanden sie die Spur einer Vermissten. Wenn auch finden nicht das richtige Wort war. Man hatte sie beobachtet und sie auf die Spur gesetzt.
    Hatten also auch die Geschenke des Schamanen einen tieferen Sinn? Hatte er gewusst oder

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