Hybrid
selbst so zugerichtet?«
Juli zog den Stock zurück und stützte sich darauf. »Er muss furchtbar gelitten haben. Jetzt verstehe ich seine Schreie in der Nacht …« Sie schloss die Augen.
Tom wandte sich vom Anblick der entstellten Leiche ab. Seine Blase drückte nun wieder, und ihm war flau im Magen. Er ging einige Schritte fort und stellte sich hinter einen Baum. Kaum vorstellbar, dass ein so deformierter, aufgedunsener und verletzter Mensch sie durch den Urwald verfolgt und in der Nacht derart gewütet haben sollte. Falls doch, musste das Wesen über eine außergewöhnliche körperliche Konstitution verfügt haben. Was sollten sie nun tun? Mussten sie den Toten irgendwo melden? Sollten sie ihn begraben? Oder ihn einfach liegen lassen?
»Tom, du musst noch mal herkommen!«
Als Tom zu Juli zurückkehrte, war sie tief über die Leiche gebeugt und stocherte mit einem kleineren Stock an ihr herum.
»Was tust du da?«
»Du musst dir diese Verletzung ansehen.«
»Ähm, ich …«
»Wir sind auf der richtigen Spur!«
Tom trat näher heran und konzentrierte sich auf das Detail, das Juli ihm zeigte. Er versuchte zu vergessen, dass er eine Leiche betrachtete, blendete alles andere aus, sah nur den Stock, die Spitze des Stocks und die kleine Stelle, wo die Haut aufklaffte und das blanke Fleisch darunter zum Vorschein kam.
Es hatte einen violetten Schimmer.
»Du musst das fotografieren!«
Ruckartig richtete Tom sich auf. Sie hatte recht. Dies hier war nicht einfach irgendein Missgestalteter. Diese Leiche verband den fremdartigen angespülten Fuß, das Labor auf der Elbinsel mit ihrer Suche nach Marie und Maries Bericht der Leiche, die sie gefunden hatte … Maries Brief!
»Erinnerst du dich an den Brief von deiner Schwester«, rief Tom, während er loslief, um seine Kameratasche vom Baum zu holen. »Sie beschrieb darin nicht nur das violett gefärbte Fleisch. Sondern auch Geschwüre und borstige Haare! Genau wie bei dem hier!«
Als er kurz darauf zurück war, befestigte er ein Objektiv auf seiner Kamera und begann zu fotografieren.
»Er hat keine besonderen Merkmale«, stellte er schließlich fest. »Keine Tätowierungen oder etwas, womit man ihn identifizieren könnte.«
»Wir kommen hier nicht weiter«, sagte Juli. »Wir müssen uns auf den Weg machen. Endlich herausfinden, was hier vorgeht.«
Tom nickte. Stumm packte er seine Kamera weg und gemeinsam bedeckten sie den Leichnam erst mit großen Blättern und legten schließlich so viele Stöcke darüber, wie sie finden konnten.
»Er muss auf diese Weise Teil des Kreislaufes werden«, meinte Juli. Dann holten sie ihre Ausrüstung vom Baum, und bald waren sie wieder auf dem Weg.
Sie fanden einen gut zu bewältigenden Zugang zum Fluss, der hier ein sandiges und nur niedrig bewachsendes Ufer aufwies. Inzwischen war es acht Uhr morgens, und nach den Schrecken der Nacht und des Morgens und der erdrückenden Dichte des Urwalds genossen sie den erholsamen Blick auf das offene, träge dahinfließende Gewässer. Sie nutzten die Stelle, um etwas zu frühstücken, Kaffee zu trinken und Wasser für ihre Vorräte abzukochen. Sie sprachen nur wenig und hingen ihren Gedanken nach.
»Ich schlage vor, dass wir nun am Fluss bleiben«, sagte Tom nach einer ganzen Weile. »Auch auf die Gefahr hin, dass noch mal ein Boot kommt und wir gesehen werden.«
»Ja«, sagte Juli. »Ich fühle mich hier auch wohler.«
So folgten sie dem Flussufer und kamen zügig voran.
»Was denkst du, was der Mann von uns wollte?«, fragte Juli irgendwann unvermittelt.
»Ich zerbreche mir den ganzen Morgen den Kopf darüber«, entgegnete Tom. »Was für ein Zufall kann es schon gewesen sein, dass er auf uns getroffen ist? Er muss uns den ganzen Tag schon gefolgt sein, wenn er es auch war, den wir in der Nacht zuvor gehört hatten.«
»Es klingt vielleicht komisch«, sagte Juli, »aber ich werde das Gefühl nicht los, dass er uns tatsächlich gesucht hat und dass er Hilfe brauchte.«
Ähnlich ging es Tom. Auch ihn hatte insbesondere der klagende Ton der nächtlichen Schreie an einem Nerv getroffen, auch in ihm hatte der entstellte Mann trotz allen Ekels in erster Linie Mitleid ausgelöst. Aber wie hätten sie ihm helfen können? Oder hatte er ihnen etwas sagen oder zeigen wollen? Vielleicht war er auch einfach nur wahnsinnig vor Schmerzen gewesen.
»Wir werden es nicht mehr erfahren«, antwortete er.
Juli war stehen geblieben. »Vielleicht doch«, sagte sie.
»Hm?« Tom drehte sich zu
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