Hybrid
geahnt, was sie finden würden? Und hatte auch die Alte im Dorf mehr gewusst? Offenbar benötigten die Leute Hilfe von ihnen, aber vielleicht wussten sie nicht, ob sie ihnen trauen konnten. Man setzte sie also auf die Fährte in der Hoffnung, dass sie etwas erreichen konnten, aber man hielt sich zurück. Vielleicht aus Zweifel, vielleicht aus Angst?
Der Missgestaltete in der Nacht … Hatte er sie angreifen wollen oder tatsächlich ebenfalls Hilfe gesucht, wie Juli vermutete? Und der Mann, der ihnen nun den Rucksack überlassen hatte; versuchte er, mit ihnen zu kommunizieren? Wollte er ihnen noch mehr zeigen? Benötigte er ebenfalls ihre Hilfe?
Tom sah sich um. Juli saß noch immer in das Tagebuch vertieft unter dem Baum. Toms Blick wanderte umher, und etwas weiter abseits, am Rand des Waldes, erkannte er den Schatten des gekrümmten Indios, der sie weiterhin beobachtete. Er bezweckte etwas. Vielleicht wollte er sehen, wie sie auf das Geschenk reagierten.
Tom ging zurück zum Schatten des Baums. Neben Juli auf dem Boden lag der Speer, den sie als Wanderstab verwendete. Er nahm ihn auf. Sie sollten damit nicht töten, hatte ihnen der Schamane gesagt. Der Speer sei für das Leben. Er war also nicht als Kriegswaffe gedacht. Er und Juli konnten nicht viel mit ihm anfangen. Aber der Indio vielleicht schon. Vielleicht konnte er sich damit verteidigen oder zur Jagd gehen. Vielleicht konnte er ihn zum Überleben verwenden.
Tom ging zum Waldrand, dorthin, wo er den Indio zuletzt gesehen hatte. Der Mann war verschwunden, aber dort, wo er gestanden hatte, lag ein umgestürzter Baum. Das Sonnenlicht fiel hier in einem dünnen Strahl durch die dichten Kronen und erhellte eine Astgabel, an der eine goldene Kette mit einem glitzernden Medaillon hing. Es war eine moderne Kette, und der Anhänger zeigte das Sternzeichen Zwilling. Sehr wahrscheinlich war die Kette ebenfalls von Julis Schwester.
Tom nahm die Kette vom Ast und lehnte stattdessen den Speer dort an. Der Indio würde verstehen, dass sie ihm nichts Böses wollten, wenn sie ihm eine Waffe hinterließen. Er würde sie als Geschenk erkennen, das für ihn viel wertvoller war als für Tom und Juli.
Er sah sich um, aber im Zwielicht des Unterholzes war der Mann nirgendwo zu erkennen. Tom konnte nur vermuten, dass er dennoch nicht weit entfernt war und ihn beobachtete. Also ließ er den Speer zurück und ging zurück zu Juli, die noch immer über das Tagebuch ihrer Schwester gebeugt war.
Als er näher kam, sah sie zu ihm auf.
»Du musst das lesen!«, sagte sie. Sie reichte ihm das Buch, aufgeschlagen auf einer der letzten Seiten, bei einem Eintrag vom zwölften Mai.
Tom nahm das Buch entgegen und setzte sich zu ihr. Maries Handschrift war eine Mischung aus Schreibschrift und Druckbuchstaben, die dennoch harmonisch und geschwungen aussah. Sie wirkte weiblich, aber ohne schulmädchenhafte Schleifen. Es war Schrift von jemandem, der viel und schnell schrieb und einen ganz eigenen Stil entwickelt hatte. Vielleicht interpretierte er zu viel hinein, aber die Seiten sahen aus, wie von jemandem geschrieben, der selbstbewusst und zielstrebig war, ganz wie Juli ihre Schwester beschrieben hatte. Tom fragte sich kurz, wie Julis eigene Handschrift wohl aussah, aber dann las er die ersten Worte und versank in der Lektüre der Einträge.
Als er fertig war, sehnte er sich nach etwas zu trinken, als müsse er einen üblen Geschmack hinunterspülen. Er nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Dann stand er auf und ging zu Juli, die am Flussufer saß und auf das Wasser sah.
»Deine Schwester hat eine recht plastische Ausdrucksweise«, sagte er.
»Missverständnisse gab es mit ihr nie.«
»Eines ist jetzt klar geworden: Die Vorfälle hängen zusammen. Und die Dorfbewohner wissen Bescheid, dass hier etwas läuft, ebenso wie der Schamane und die Campleiterin.«
»Ich habe Angst«, sagte Juli halblaut. »Was hat es zu bedeuten, dass wir jetzt den Rucksack bekommen haben? Heißt das nicht, dass sie verunglückt ist? Oder dass etwas anderes Schlimmes passiert ist? Warum sonst sollte sie den Rucksack und ihr Tagebuch zurückgelassen haben?«
Tom stellte sich vor sie und ergriff ihre Hände. Sie sah zu ihm auf. »Wir werden Marie finden«, sagte er noch einmal. »Ich bin ganz sicher.«
Juli schlang ihre Arme um seine Hüfte und legte ihren Kopf auf seine Brust. Sie atmete tief durch.
»Der Indio wird uns zu ihr führen«, sagte Tom nach einer Weile. »Er hat uns das hier
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