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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Madsack
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wie erwachsen du bist. Und wie klug. Eine bessere Begleitung auf dieser Reise könnte Stanislaw nicht haben.«
    »Dennoch scheinst du besorgt um ihn zu sein. Wir wollen doch nicht vergessen, wer und was er ist!«
    Der nächste Seufzer ließ Joanna aufhorchen. Sie wartete, bis Daphne murmelte: »Das ist ja gerade das Problem. Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber in letzter Zeit hatte ich das Gefühl, dass er sich irgendwie, nun ja, davon entfernt hat.«
    »Wie? Wovon entfernt? Ein Vampir zu sein? Das meinst du nicht im Ernst, oder?«
    »Doch«, Daphnes Stimme klang verhalten, »er wurde so … ich sag es jetzt einfach, so menschlich, das war fast unheimlich.«
    Beide sagten eine Weile nichts. Bis Joanna in sehr trockenem Ton erwiderte: »Das kann ich nicht bestätigen. Erst letzte Nacht habe ich gemerkt, dass er sich zusammen mit Igor aus seinem Zimmer geschlichen hat, und das hat er bestimmt nicht getan, um den Mond zu bewundern.«
    »Dann vergiss, was ich dir gesagt habe. Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Und vielleicht sollte dieses Telefonat besser unter uns bleiben. Alles Gute, Joanna, und genieß die Reise durch Transsylvanien.«
    Die Verbindung wurde unterbrochen, bevor Joanna reagieren konnte. Als sie nach der Tasse griff, war der Tee kalt geworden. Sie blieb in ihrem Sessel sitzen und starrte hinaus in den grauen Dunst dieses Novembermorgens, hinter dem wie unter einem sich lichtenden Schleier zaghafte Sonnenstrahlen erkennbar wurden.
    *
    Stanislaw hatte den Eindruck, dass bis jetzt alles gut verlaufen war. Auch in Brasov hatte das Hotel seinen Wünschen entsprochen und gegen eine für dortige Verhältnisse unanständig hohe Summe die Fenster verdunkelt. In dieser Summe war ebenso enthalten gewesen, dass niemand etwas gegen den riesigen Wolfshund einwendete, der den geheimnisvollen Grafen wie ein Schatten überallhin begleitete.
    Als Stanislaw nach der ersten Nacht im Hotel erfolglos versucht hatte, Joanna über ihr Handy zu erreichen, wurde er unruhig. Er rief bei der Rezeption an. Ja, sie habe für ihn eine Nachricht hinterlassen. Sie sei unterwegs in der Stadt und werde gegen fünfzehn  Uhr ins Hotel zurückkehren.
    Fünfzehn  Uhr, dann blieb ihm noch eine Stunde. Er war gerade dabei, Daphnes Nummer anzuklicken, als sein Handy läutete. Es war Ewa.
    »Hast du gut geschlafen, Stanislaw? Und wie geht es deiner Kleinen? Ich bin neugierig, sie kennenzulernen. Ist wohl nicht leicht für sie.«
    »Wovon sprichst du?« Er wusste genau, was Ewa meinte.
    Und sie sprach es dann auch aus: »Na, davon, wie es sich anfühlt, ein Zwitterkind zu sein, zu keiner Welt richtig zu gehören. Egal, ich schaue heute Abend mal bei euch vorbei, habe Kundschaft in der Nähe von Brasov, bin gegen halb acht im Hotel.«
    Sie beendete das Gespräch, bevor er antworten konnte.
    Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass Joanna bisher nicht gefragt hatte, wie es mit ihrer Reise weitergehen würde. Natürlich hatte er manches im Voraus geplant, und er wusste, was er ihr zeigen wollte. Er hatte sich vorgestellt, dass er sich zunächst über die längere Autofahrt in die Karpaten wieder an seine Heimat herantastete, um dann von Brasov aus zusammen mit Joanna die ersten Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen.
    Derartige Zaghaftigkeit entsprach nicht seiner Vampir-natur, doch er wollte die Wiederbegegnung mit seiner veränderten Heimat möglichst behutsam angehen. Ihm war wichtig, dass Joanna diese Reise genießen konnte.
    Sein Mobiltelefon läutete erneut. Diesmal war es Pater Basilio. Er gab einen kurzen Bericht darüber, wie die Dinge in Marbella standen. »Graf Stanislaw, Joannas Mutter hat mich gebeten, Sie anzurufen. Sie wollte sich nicht direkt an Sie wenden, Sie verstehen das sicher.«
    Und wie gut er das verstand! Clarice musste ihn hassen, nach dem, was er ihr und Joanna angetan hatte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie nach dem Bericht des Paters das erste Flugzeug nach Rumänien bestiegen hätte, um die gemeinsame Tochter sofort wieder in die sicheren Gefilde der mütterlichen Obhut zu nehmen. Don Basilio musste starke Überzeugungsarbeit geleistet haben, um Clarice dieses Vorhaben auszureden. Dazu hatte wohl auch das zuletzt gewonnene Vertrauensverhältnis zwischen ihm und diesem Mann der Kirche beigetragen, ein Gedanke, der Stanislaw mit unerwartetem Stolz und ebenso mit Freude erfüllte. »Ich nehme an, sie möchte wissen, wie es Joanna in diesem wilden, geheimnisvollen Land bisher ergangen

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