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Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Madsack
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einverstanden?«
    »Mmmh«, murmelte sie, rollte sich in ihrem Sitz zusammen und schloss die Augen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Mein Vater ist ein Vampir, ist ein Vampir, ist ein Vampir … Der Gedanke hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt wie ein Mantra, obwohl sie sich bemühte, ihn zu vertreiben. Aber in Snagov war ihr klar geworden, dass diese Art der Verdrängung, die eher eine Verleugnung war, hier nicht funktionierte.

Zehn
    Stanislaw betrachtete seine Tochter. Sie lag halb auf der Seite, ihm zugewandt. Ihr rotblondes Haar, das bis zu den Schultern reichte, umrahmte in lockeren Wellen das Gesicht, das ihm inzwischen so vertraut war. Sachte strich er eine Strähne zurück, die sich vor ihre Augen geschoben hatte.
    Er wandte den Blick wieder auf die Straße, als Joanna im Schlaf zu zucken begann. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest, bis sie zu sich kam und ihn verwirrt ansah. »Was ist los?«
    »Du hast heftig geträumt«, erwiderte er.
    Sie richtete sich auf, glättete ihre Kleidung und fuhr sich durch die Haare. »Ich habe von Brasov geträumt, einem Ort, an dem ich noch nie gewesen bin.«
    «Wie sah es in deinem Traum dort aus?«
    »Ich stand auf einem großen Platz, der von schön restaurierten Häusern umgeben war, er schien das Zentrum der Altstadt zu sein. In der Nähe gab es eine Kirche mit verwitterten schwarzen Mauern.«
    »Und dann?«
    Er spürte, wie sie in ihrem Sitz die Glieder anspannte.
    »Was kam danach?« Erneut nahm er ihre Hand.
    »Die Gasse war menschenleer, bis eine Gestalt um die Ecke bog, ein Mann in einem seltsam glänzenden hellen Anzug. Der Mann …« Ihre Stimme erstarb, und er spürte, dass sie nicht weitersprechen wollte. Sie entzog ihm ihre Hand und sagte leichthin: »Das Motiv eines klassischen Angsttraums, oder was, meinst du, würde Professor Freud dazu sagen?«
    Stanislaw erwiderte nichts. Die senkrechte Linie zwischen seinen Augenbrauen bildete eine tiefe Furche.
    Joanna wandte sich um. »Was meinst du, Igor?«
    Hechelnd stand der Wolfshund mit allen vier Pfoten auf dem hinteren Sitz, in der Mitte seines Rückens hatte sich das Fell wie eine Bürste aufgerichtet. Er drängte den Kopf gegen Joannas Schulter. »Ist ja gut«, sagte sie leise und kraulte ihn hinter den Ohren.
    »Kann es sein, dass mich die Furcht vor Kyrill bis in meine Träume verfolgt?«
    »Ich besitze sehr viel Macht, Joanna, aber sie reicht nicht so weit, dass ich deine Träume beeinflussen kann.«
    »Und das ist auch gut so«, sagten beide gleichzeitig, sahen sich an und lachten.
    »Wo sind wir?« Erst jetzt nahm sie die veränderte Landschaft wahr. Sie fuhren auf einer engen Straße, die von Wäldern umgeben war und immer weiter in die Berge hinaufführte. Joanna öffnete das Fenster. Kalte und sehr frische Luft wehte herein.
    »Sind wir schon in den Karpaten?«
    »Wir sind auf dem Weg dorthin, das hier sind die Ausläufer.«
    Er klang ruhig, doch Joanna glaubte zu spüren, was in ihm vorging. Sie seufzte und atmete tief aus. Ohne ihn anzusehen, berührte sie seinen Arm.
    »In zwanzig Minuten sind wir am Ziel.« Diesmal war ein leises Vibrieren in seiner Stimme nicht zu überhören.
    »Schade, dass es bald dunkel sein wird«, sagte sie und ärgerte sich im nächsten Moment über die unbedachte Äußerung. Als habe sie ihm einen Vorwurf machen wollen, dass sie so spät losgefahren waren! Ängstlich betrachtete sie sein Gesicht, doch er erwiderte in unverändertem Ton: »Ich finde es auch schade, aber morgen wirst du alles im hellen Tageslicht besichtigen können.«
    Ein Schild zeigte an, dass sie kurz vor Brasov waren. Oder Kronstadt, wie die Stadt früher geheißen hatte.
     
    Stanislaw hatte im besten Hotel reserviert, attraktiv gelegen am Rande der Altstadt, mit vier Sternen und modernisiertem Anbau. Niemand erschien, als er vorfuhr. »Ich gehe rein«, sagte er schließlich.
    Wenig später tauchte ein Angestellter mit einem dieser Messingwägelchen auf, wie sie in besseren Hotels üblich sind. Joanna wartete beim Auto, während Igor gemächlich das Pflanzenbeet vor dem Eingang umrundete. Sobald das Gepäck versorgt war, betrat sie das Hotel und wäre fast auf der Stelle umgekehrt. Stanislaw ging ihr entgegen.
    »Wo sind wir denn hier gelandet?«, fragte sie ihn und deutete mit einer Handbewegung auf eine fast leere, mit Marmorboden ausgelegte Halle, in der zwei Tanzsäle Platz gefunden hätten.
    »Das, meine liebe Joanna, ist offenbar ein Überbleibsel aus der Zeit des real existierenden

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