Hymne an Die Nacht
Himmel erhob. Die Entfernung von unten bis ganz nach oben konnte in einer Viertelstunde zu Fuß bewältigt werden, doch sogar Joanna musste tief Luft holen, bevor sie den letzten Abschnitt der Strecke geschafft hatte.
Der breite, gepflasterte Weg an der Ostseite des Hügels wurde von Laubbäumen gesäumt, die fast alle Blätter verloren hatten. Vergeblich versuchte sich Joanna gegen die Trostlosigkeit der Umgebung zu wehren. Schon die Ankunft auf dem Parkplatz war ein deprimierendes Erlebnis gewesen. Das Wächterhäuschen schien verwaist, und die einzige Person, die Auskunft geben konnte, war die mürrische Wirtin in der Baracke neben dem angrenzenden Sportplatz. Nein, die Burg könne zur Zeit nicht mit dem Auto erreicht werden, der Weg sei gesperrt. Ja, man könne zu Fuß hinaufgehen, aber die Burg sei wegen Renovierungsarbeiten nicht zugänglich.
»Das werden wir ja sehen«, hatte Stanislaw zwischen den Zähnen gemurmelt und war mit Igor vorausgegangen. Er werde vor der Burg auf sie warten, hatte er zu Joanna gesagt. Sie hatte sofort verstanden, dass Stanislaw den Aufstieg ohne sie machen wollte, um oben eine Weile allein zu sein.
Rasnov hieß der Ort auf Rumänisch, Rosenau in der Sprache der deutschstämmigen Siedler, die im Mittelalter in diese Gegend gekommen waren, ebenso wie die Ungarn, zu denen auch Stanislaws Familie gehört hatte.
Während Joanna den Weg zur Burg hinaufstapfte, überließ sie sich ihren Gedanken, die jetzt kamen und gingen, ohne sie zu bedrängen. Der stetige Rhythmus der Bewegung versetzte sie in einen Zustand inneren Losgelöstseins, bis unvermittelt und aus unbekannten Tiefen aufsteigend ein Bild vor ihr erschien: Sie sah Vadim so deutlich vor sich, dass sie fähig gewesen wäre, jedes Detail seines Gesichts zu zeichnen.
Im Gegensatz zu vielen anderen jungen Mädchen hatte sie sich während ihrer Teenagerphase nie für Filmstars interessiert, die Brad Pitts dieser Welt und seinesgleichen waren ihr völlig gleichgültig gewesen, woran sich auch jetzt, mit fast vierundzwanzig Jahren, nichts geändert hatte.
Joanna wusste, dass sie, was Männer betraf, eine Spätzünderin war. Mit zwanzig hatte sie beschlossen, so könne es nicht weitergehen. Ein Junge aus der Nachbarschaft, man kannte sich seit langem, wurde von ihr ausersehen, sie zu entjungfern. Die Prozedur war kurz und nicht besonders schmerzhaft gewesen, und während sie seine unbeholfenen Bemühungen über sich ergehen ließ, dachte sie daran, dass sie ihren Hund wegen einer verletzten Pfote zum Tierarzt bringen sollte. Als der Junge danach auf Wiederholungen drängte, erklärte sie ihm, sie habe nichts dabei empfunden, wahrscheinlich sei sie frigide. Mit dieser Begründung gab er sich zu ihrer großen Erleichterung zufrieden, und inzwischen war er mit einer ihrer Schulfreundinnen verlobt.
Während sie daran dachte, lächelte sie in sich hinein. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Burghöhe. Stanislaw saß in aufrechter Haltung auf einem hohen Stein, den Blick geradeaus gerichtet, Igor dicht neben sich. Ohne aufzublicken wartete er, bis sie neben ihm stand, und obwohl sie gern seine Hand genommen hätte, wagte sie nicht, ihn zu berühren.
Kaum dass sie sich auf einen Felsvorsprung neben ihm gekauert hatte, begann er zu sprechen: »Die Historiker behaupten gern, in dieser Gegend habe es damals nur deutschstämmige Siedler gegeben. Sie verweisen dann auf die Gegend von Rasnov, in der alles so ordentlich und gepflegt aussieht, wie man es von den Deutschen kennt, während der von Rumänen errichtete Teil … nun ja, eben ganz anders wirkt.«
Sie sah ihn von der Seite an und wartete, bis er fortfuhr: »Du wirst dir selbst ein Bild davon machen können, wenn wir hinunterfahren in den Ort Rasnov. Es hat deutsche Siedler gegeben, es hat die Rumänen gegeben, die schon hier waren.« Er erhob die Stimme: »Aber vor allem hat es die Ungarn gegeben.«
»Ich weiß«, murmelte sie. Warum erregte ihn das so? Es war doch eine historische Tatsache.
»Transsylvanien war immer ein Zankapfel. Mal fielen die Osmanen hier ein und besetzten das Land für eine Weile, mal herrschten wieder die walachischen Fürsten. Die eigentlichen Herren hier waren aber die Ungarn, seitdem sie im 10 . Jahrhundert zum ersten Mal einen Fuß auf diese Erde gesetzt hatten, und das ist nun wirklich verdammt lange her.«
»Mein Vater, der Patriot?« Joanna konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Sie musste an das denken, was ihr Tomas während der
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